Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
noch eine bewusstlose Frau, die laut seiner Beschreibung ebenfalls nicht gerade klein gewesen war, hinter sich hergezerrt hatte. Sie merkte, dass sie noch immer hoffte, das Ganze werde sich als Prahlerei, als gigantisches Aufschneiden und als letztlich völlig unmöglich erweisen. Aber im Grunde wusste sie um die Vergeblichkeit dieser Hoffnung: Als er heulend über ihrem Frühstückstisch hing und das Unfassbare gestand, da war er von purer Verzweiflung getrieben worden und keinesfalls von dem Wunsch, ihr eine Schauergeschichte aufzutischen. Und unmöglich war es auch nicht: Der kleine Ryan war hier problemlos hineingekommen. Der große Ryan hatte sich ganz schön anstrengen müssen, aber es war keinesfalls ein Ding der Unmöglichkeit.
Schwer atmend und völlig erschöpft standen die beiden vor der Öffnung.
»So weit, so gut«, sagte Debbie auf ihre gewohnt bur schikose Art, mit der sie ihre eigene Verletzlichkeit zu tarnen gelernt hatte. »Wer von uns hat jetzt das Vergnügen, als Erste hier hineinzukriechen?«
Nora hob die Nase. »Es riecht … nach Erde«, sagte sie anstelle einer Antwort. »Nach Feuchtigkeit. Etwas modrig. Aber es riecht nicht nach …«
»Verwesung?«, fragte Debbie. »Nein, nach drei Jahren bestimmt nicht mehr. Wenn sie da noch drin ist, dann ist von Vanessa Willard wahrscheinlich nichts übrig, was noch riechen könnte.«
»Ja, natürlich«, sagte Nora, und ihre Lippen bebten.
Debbie bemerkte es. »Ich gehe zuerst«, sagte sie. Sie wandte sich um, griff nach einer Taschenlampe und nahm aus ihrem kleinen Werkzeugkoffer einen Akku-Schrauber.
Für die Schrauben an der Kiste, dachte Nora, nahm ebenfalls eine Lampe und bemühte sich krampfhaft, den Schwindel niederzukämpfen, der sie in Wellen anfiel. Erneut begriff sie, wie gut beraten sie gewesen war, sich an Debbie zu wenden und sie um Hilfe zu bitten. Allein hätte sie diese ganze Geschichte nicht durchziehen können.
Debbie verschwand in der Felsöffnung. Sie war wesentlich zierlicher als Nora und es fiel ihr leichter, sich in der Enge zu bewegen. Nora, mit ihren breiten Schultern und kräftigen Oberarmen tat sich schwerer, aber sie sagte sich, dass es schließlich auch Ryan geschafft hatte, und der war deutlich größer und muskulöser als sie. Dennoch bekam sie Platzangst, als sie Debbie durch den schmalen Felsengang folgte. Das Tageslicht, das hinter ihnen am Eingang zu sehen war, spendete hier kaum noch Helligkeit, aber sie hatten ja die Taschenlampen. Im Lichtkegel sah Nora Debbies Rücken vor sich, was immerhin noch ein tröstlicher Anblick war. Ringsum gewahrte sie Fels und Erde und Wurzelgeflecht, und irgendwo hörte sie Wasser tropfen. Sie dachte an das Gras und die Blumen, die über ihnen wuchsen, an den wolkenverhangenen Himmel, den Regen, plötzlich sogar an den Campingplatz, an dem sie vorbeigekommen waren, an die Menschen, die in den Wohnwagen saßen und vermutlich trübsinnig in das schlechte Wetter hinausstarrten, an das Dorf, in dem Ryan gelebt hatte, und daran, in welch tiefem, dunklem, nassem Grün die Blätter der Bäume an einem Tag wie diesem glänzten. Das war die Welt, die Normalität, nach der sie sich auf einmal inbrünstig sehnte. Diese modrig riechende, feuchte Dunkelheit, durch die sie tappte, hingegen war wie ein Alptraum, in den man nachts geraten kann und aus dem man dankbar und erleichtert erwacht. Aber diesmal, das war ihr nur zu bewusst, würde sie nicht erwachen. Sie würde diesen Weg bis zum Ende gehen, zum Ende, Ende, Ende, Ende … Sie konnte plötzlich nur noch dieses eine Wort denken, im Rhythmus der Tropfen, die irgendwo hier in dieser Höhle gleichmäßig auf den Felsen schlugen.
Ende, Ende, Ende.
Und in diesem Moment blieb Debbie so unvermittelt stehen, dass Nora gegen sie prallte.
»Der Gang ist zu Ende«, sagte sie.
Nora hielt ihre eigene Taschenlampe gesenkt, spähte jedoch über Debbies Schulter und konnte im Schein der anderen Lampe den höhlenähnlichen Raum erkennen, in den der Gang mündete. Sie hatte geglaubt, hier kaum noch Luft zu bekommen, aber tatsächlich konnte man sogar besser atmen als im Gang. Es musste etliche Felsspalten ringsum geben, durch die Sauerstoff eindringen konnte. Man sah das auch an dem Wasser, das in Schlieren über die Wände lief. Regen, der seinen Weg nach innen fand.
Die Höhle war niedriger als der Gang. Nora schätzte, von ihrer eigenen Größe ausgehend, die Deckenhöhe des Ganges auf etwa einen Meter fünfundsiebzig. Sie hatte noch Spielraum nach
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