Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Bonbons, aber auch dann würde er Gott auf Knien danken. Ihm war schwindelig vor Hunger, und er hatte sich in den Gedanken verrannt, ihm werde, wenn er erst etwas gegessen hätte, ein Einfall kommen, wie es weitergehen konnte. Natürlich war Nora keine Lösung mehr, sie hatte den Stein ins Rollen gebracht. Debbie? Fast vermutete er, dass ihr Haus überwacht wurde. Zudem würde Debbie für den Fall Vanessa Willard nicht das mindeste Verständnis haben. Corinne, seine Mutter? Es war weit bis nach Yorkshire hinauf, und dann war da auch noch Bradley. Ganz sicher wussten die beiden inzwischen Bescheid, Corinne weinte wahrscheinlich Tag und Nacht, und Bradley war bereit, dem ungeliebten Stiefsohn mit seinem Jagdgewehr im Anschlag entgegenzugehen, falls er sich blicken ließe.
Egal. Später. Schritt für Schritt. Er musste etwas essen!
Als er eine Stimme hinter sich hörte, die seinen Namen nannte, erschrak er so, dass er fast reflexartig losgestürmt wäre, hakenschlagend zwischen den Autos hindurch, weg, nur weg, aber dann begriff er, dass die Stimme nicht barsch oder schroff geklungen hatte, sondern freundlich, und dass es sich kaum um einen Polizisten handeln konnte.
»Ryan? Bist du nicht Ryan Lee?«
Er drehte sich langsam um. Der junge Mann, der hinter ihm stand und einen Einkaufswagen schob, in dem sich Bretter stapelten, kam ihm bekannt vor, aber er konnte ihn nicht sofort einordnen. Doch dann dämmerte es ihm.
»Harry?«
Harry nickte und lächelte. Die Party bei Freunden von Nora, der Typ, der für seine neu eingerichtete physiotherapeutische Praxis geworben hatte. Im April war das gewesen, aber Ryan schien es Jahre her zu sein.
»Mensch, Ryan, was machst du denn hier?«, fragte Harry. Es klang so, als habe er einen alten Freund überraschend wiedergetroffen und freue sich riesig, ihn zu sehen. Instinktiv und blitzschnell erkannte Ryan, wie einsam und unglücklich Harry war. Seine Praxis lief vermutlich immer noch nicht, er saß die Woche über allein dort und wartete auf Patienten, die nicht kamen. Seine Freunde zogen sich vor seinem Scheitern zurück. Harry haftete die Erfolglosigkeit inzwischen an wie ein übler Geruch. Er war wild erpicht auf Gesellschaft, selbst wenn es die eines Exknackis war, den er eigentlich kaum kannte, und vielleicht konnte sich Ryan diesen Umstand zunutze machen. Zumal Harry ganz offensichtlich noch nichts davon wusste, dass Ryan polizeilich gesucht wurde. Sein Lächeln wirkte völlig unbefangen.
»Harry, nett, dich wiederzusehen!«, sagte Ryan. Er machte eine unbestimmte Handbewegung zu einem der hinter ihm parkenden Autos hin. »Ich warte gerade auf Nora. Sie ist drinnen einkaufen. Seit Stunden!« Er verzog das Gesicht.
»Frauen!«, meinte Harry verständnisvoll. Es fiel ihm zum Glück in diesem Moment nicht auf, wie befremdlich es war, dass Nora, die weder einen Garten noch einen Balkon besaß, Stunden in einem Pflanzencenter verbringen sollte.
»Tja, es ist leider kompliziert …« Ryan setzte eine Miene auf, von der er hoffte, dass sich darin Trübsinn und Ärger mischten. »Zwischen uns stimmt es überhaupt nicht mehr«, vertraute er Harry mit gesenkter Stimme an. »Wir haben nur noch Streit, und manchmal behandelt sie mich wirklich wie den letzten Dreck.«
»Echt?« Harry war ziemlich perplex. »So wirkte das aber gar nicht … bei der Party damals.«
»Na ja, damals … Seitdem ist viel Zeit vergangen«, sagte Ryan, »und sie fühlt sich einfach als die Überlegene in unserer Beziehung. Sie will alles bestimmen, und sie setzt mich unter Druck, wenn ich nicht tue, was sie will. Du weißt ja, wie Frauen sein können.«
»Oh ja, das weiß ich«, versicherte Harry, der ohne jede Beziehungserfahrung war und keine Ahnung hatte, was Ryan genau meinte. »Wie schade für euch beide!«
»Sie wollte nicht einmal, dass ich mit hinein in das Geschäft komme«, sagte Ryan wütend, »und weißt du, was sie sagte, ehe sie mich vor ungefähr zwei Stunden hier stehen ließ?«
»Nein. Was?«
»Sie sagte sinngemäß, sie würde kein bisschen traurig sein, wenn sie mich hier bei ihrer Rückkehr nicht mehr anträfe. Geh doch, ich weine dir bestimmt keine Träne nach! Das waren ihre Worte. Und sie denkt natürlich, das kann sie ohne jedes Risiko heraustrompeten, weil ich ja so auf die Schnelle gar nicht weiß, wohin ich soll. Ich habe keine Familie, niemanden. Und meine Vergangenheit … du weißt ja!«
»Ich finde das absolut unfair von Nora«, meinte Harry. »So sollte sie nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher