Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
ihm seine verstorbene Großmutter hinterlassen hatte. Von ihr stammte auch das Reihenhaus in Morriston, das Harry überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, sich in die Selbstst ändigkeit zu stürzen. Ein absoluter Wahnsinn, wie Ryan fand. Aus reinem Zufall kam hier überhaupt niemand vorbei, und selbst wenn jemand in der Innenstadt von Swansea von Harry hörte, würde er es sich dreimal überlegen, ob er den umständlichen Weg bis in den Außen bezirk auf sich nahm. Die Straße, in der Harry wohnte, wirkte ärmlich, fast etwas schmuddelig. Niemand würde erwarten, hier einen renommierten, erfolgreichen Physiotherapeuten anzutreffen. Harry würde aufgeben müssen. Aber Ryan hütete sich, ihm das zu sagen.
Natürlich hatte Harry auch bereits angedeutet, dass es nicht schlecht wäre, wenn sich Ryan am Kauf der Lebensmittel finanziell beteiligen würde, aber Ryan hatte, ebenfalls pokernd, daraufhin erwidert, es sei vielleicht wirklich an der Zeit, zu Nora zurückzukehren. Harry, der das Alleinsein fast nicht mehr ertrug, war sofort eingeknickt. »Nein, das wäre viel zu früh! Denk daran, wie sie mit dir umgesprungen ist, Ryan! Strafe muss sein. Und du kannst hierbleiben, solange du willst.«
An diesem Morgen nun saß Ryan in der Küche, trank seinen Kaffee und blickte durch die vergilbten Spanngardinen vor dem Fenster hinaus in den wolkenverhangenen Tag und auf das gegenüberliegende Haus, das genauso schmal, verwohnt und vergammelt aussah wie das, in dem er zurzeit hauste. In dem kleinen tragbaren Fernseher, den Harry auf die Anrichte gestellt hatte, liefen die Sendungen des Frühstücksfernsehens. Er achtete nicht auf das Programm, aber er zuckte zusammen, als er plötzlich seinen eigenen Namen hörte.
»Ryan Lee ist dringend verdächtig, der Entführung und Ermordung der damals siebenunddreißigjährigen Universitätsdozentin Dr. Vanessa Willard aus Mumbles im August 2009 schuldig zu sein. Ihre Leiche wurde jetzt im Pembrokeshire Coast National Park gefunden.«
Er fuhr herum und starrte in den Fernseher. Sein Gesicht bedeckte den gesamten Bildschirm. Ein Foto, das im Knast gemacht worden war. Er sah unglücklich und elend darauf aus.
»Weiterhin gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er auch mit dem spurlosen Verschwinden der fünfunddreißigjährigen Alexia Reece, wohnhaft in Swansea, etwas zu tun hat. Alexia Reece wurde zuletzt am …«
Er sprang auf, schaltete hastig den Fernseher aus, eilte zur Küchentür und hielt Ausschau nach Harry. Hatte er etwas mitbekommen? Er hörte oben den Föhn brummen und atmete auf. Gott sei Dank, er war noch im Bad.
Sein Blick fiel auf das silberfarbene Drahtkörbchen, das an der Innenseite der Haustür unterhalb des Postschlitzes angebracht war. Zusammengerollt lag die Morgenzeitung darin. Er nahm sie, stopfte sie ganz nach unten in den Mülleimer in der Küche, versteckte sie unter Kartoffelschalen, Joghurtbechern und einem klein gerupften Cornflakeskarton. Irgendwann später würde er sie sicherheitshalber entsorgen, aber für den Moment musste das reichen.
Er merkte, dass seine Beine zitterten. Der Boden hier war jetzt zu heiß geworden. Er konnte nicht jeden Morgen die Zeitung abfangen, und er konnte Harry nicht dauerhaft vom Fernsehen abhalten. Jeden Moment konnte er auffliegen. Jede Stunde, die er jetzt länger blieb, stellte eine Gefahr dar.
Er sank wieder auf seinen Stuhl, umklammerte den Kaffeebecher. Tröstliche Wärme strömte in seine eiskalten Finger. Ihm ging jetzt erst auf, dass er soeben Gewissheit erhalten hatte: Vanessa war tot. Sie hatte sich nicht selbst befreien können, es war auch niemand vorbeigekommen, der sie aus dem grabähnlichen Gefängnis geholt hatte.
Sie hatten ihre Leiche gefunden.
Ich bin ein Mörder, dachte er.
Er merkte, wie etwas in seinem Kopf blockierte. Es war jetzt überhaupt nicht gut, an diese ganze Sache zu denken. Daran, wie Vanessa gestorben war. An seine Schuld. An alles, was auf ihn zukam. Manchmal bestand das Nächstliegende einfach darin, dafür zu sorgen, dass man nicht wahnsinnig wurde. Nur einen Gedanken ließ er noch zu, eine kurze Verwunderung: Wieso erst jetzt? Nora war am Mittwoch der vergangenen Woche offenbar bei der Polizei gewesen. Und erst eine knappe Woche später fingen sie an, öffentlich nach ihm zu fahnden. Sie schienen Vanessas sterbliche Überreste gerade erst gefunden zu haben. Warum so spät? Aber dann überlegte er, dass sie vielleicht Schwierigkeiten gehabt hatten, das Tal des Fuchses zu finden. Er
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