Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
ließ sich neben sie ins Gras fallen. In der Nässe hatten ihre blonden Haare begonnen, sich wild zu locken. Sie sah wie ein Rauschgoldengel aus. Ein Rauschgoldengel mit der Gesichtsfarbe einer Toten.
»Sie ist noch drinnen«, sagte sie nach einer Weile, während der das Schweigen in Noras Ohren langsam zu einem Dröhnen angeschwollen war. »In der Kiste.«
»Sie haben sie aufgeschraubt?«, fragte Nora. Was für eine überflüssige Frage, dachte sie.
Sie spürte Debbies Nicken mehr, als dass sie es sah. »Ja.«
»Und das ist sicher … ich meine, vom Zeitungsfoto her … Vanessa Willard?«
Von Debbie kam ein verächtlicher Laut. »Verflucht, Nora, das kann man wirklich nicht mehr erkennen. Aber wer sollte es denn sonst sein?«
Nora wünschte, das Rauschen in ihren Ohren würde nachlassen. Es war quälend, und ihr wurde schwindelig davon.
»Es liegt eine Taschenlampe in der Kiste«, fuhr Debbie fort, »und leere Wasserflaschen. Und irgendetwas … also, da ist vielleicht Essen drin gewesen.«
»Gott«, flüsterte Nora.
»Da sind überall dunkle Flecken. Ich glaube Blutspuren. Und das Holz ist völlig zerkratzt. Sie hat mit aller Macht versucht …« Debbies Stimme verlor sich, ging in ein Seufzen über, verschmolz mit dem Pladdern des Regens. Die Vögel schrien plötzlich so laut, aber vielleicht, dachte Nora, schreien sie gar nicht lauter als vorher. Es schien nur so.
Der Todeskampf der Vanessa Willard. Die Bilder gingen über alles hinaus, was sich Nora vorstellen konnte. Was sie sich vorstellen wollte.
Debbie stand so abrupt auf, dass Nora zusammenschrak. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche, starrte auf das Display.
»Wir gehen jetzt zum Auto zurück«, befahl sie, »und sowie wir wieder Handyempfang haben, was hier leider nicht der Fall ist, rufen wir die Polizei an. Sofort.«
»Debbie … sollten wir nicht … Ich meine, Ryan …«
Debbies Lippen waren ein dünner Strich. Noch immer hatten ihre Wangen nicht den geringsten Anflug von Farbe.
»Wenn Sie jetzt noch Skrupel haben, Nora, dann kriechen Sie in die verdammte Höhle und schauen Sie sich genau an, was er mit dieser Frau gemacht hat. Vielleicht kuriert Sie das von Ihrer Fürsorge gegenüber diesem erbärmlichen Feigling.« Sie drehte sich um und ging los. Ihre Taschenlampe, die noch immer brannte, hatte sie achtlos auf der Erde liegen lassen.
Nora rappelte sich hoch. Ihr Fuß sandte Schmerzpfeile das Bein hinauf, sie musste sich ihn schwer verstaucht oder gezerrt haben. Ihre Knie waren weich wie geschmolzene Butter.
»Warten Sie«, krächzte sie. »Ich komme mit.«
Aber Debbie wartete nicht. Sie ging einfach weiter, die Schultern gestrafft, der Rücken steif wie ein Brett.
»Dafür bezahlt er«, sagte sie.
7
Am Dienstag sah Ryan zum ersten Mal im Fernsehen, dass nach ihm gefahndet wurde.
Er war jetzt den vierten Tag bei Harry zu Hause, und er wusste, dass es dringend an der Zeit war, die nächsten Schritte zu tun. Er war überzeugt, dass sich unter Noras Kollegen im Krankenhaus längst herumgesprochen hatte, dass er auf der Flucht war und welches Verbrechen er verübt hatte, und selbst der vereinsamte Harry konnte jeden Moment von jemandem angerufen werden, der ihm die Geschichte brühwarm erzählte. Wenn Ryan das dann nicht sofort mitbekam und schnell das Weite suchte, würde Harry die Polizei verständigen, und sie konnten ihn hier in aller Seelenruhe verhaften.
Das Schlimme war, dass Ryan nicht einmal der Anflug einer Idee kam, wohin er gehen könnte, aber daran würde sich natürlich auch nichts ändern, wenn er noch länger hierbliebe. Er fand das Zusammensein mit Harry ziemlich schrecklich, aber zumindest hatte er ein Dach über dem Kopf, ein Sofa, auf dem er schlafen konnte, jeden Morgen eine heiße Dusche. Er konnte sich rasieren und hatte alle seine Klamotten gewaschen. Er hatte sich von Harry etwas Geld geliehen – nicht dass er wüsste, wie er das je zurückzahlen sollte – und sich einen Zehnerpack Unterhosen und mehrere Paar Socken zum Wechseln gekauft. Er hatte genug zu essen und zu trinken. Fast fühlte er sich schon wieder in einer bürgerlichen Existenz angekommen, nur dass all das auf tönernen Füßen stand und jeden Augenblick unter ihm zusammenbrechen konnte. Abgesehen davon war Harry auch überhaupt nicht in der Lage, ihn längerfristig mit durchzuziehen. Er wartete offensichtlich vergeblich auf Patienten, zumindest war den ganzen Montag über niemand erschienen, und lebte nur von dem kleinen Sparkonto, das
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