Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
oben, Ryan hatte mit Sicherheit den Kopf einziehen müssen. Die Deckenhöhe der Höhle betrug vielleicht knapp einen Meter fünfundsechzig.
Ein Traum für einen kleinen Jungen, dachte Nora, aber sie wusste, dass sie nur deshalb Ryan als niedlichen, abenteuerlustigen Jungen zu visualisieren versuchte, weil sie sich den erwachsenen Ryan und das, wozu er die Höhle genutzt hatte, nicht vorstellen wollte. Ihr war immer noch übel. Oder schon wieder? Oder war ihr eigentlich seit Tagen übel, ohne Unterlass? Vielleicht würde es ihr nie wieder gut gehen.
Vielleicht wird nie wieder etwas normal sein, dachte sie.
Debbie ließ den Schein ihrer Taschenlampe an den feuchten Felswänden entlanggleiten. Beide Frauen zuckten zusammen, als der Lichtkegel etwas zunächst Undefinierbares, Verschlungenes streifte, das von der Decke baumelte, aber dann erkannten sie, dass es sich um Teile einer Wurzel handelte, und atmeten auf.
Debbie richtete den Strahl tiefer nach unten. Sie hatte es bislang vermieden, den Boden der Höhle zu beleuchten, weil sie sich stärken musste für das, was sie dort womöglich sehen würde. Aber es half nichts. Sie waren so weit gegangen. Debbie war nicht der Mensch, der kurz vor dem Ziel aufgab.
Im Licht der Lampe gewahrten sie die lange, schmale Holzkiste, die auf dem Boden stand.
Nora schrie. So unermüdlich sie sich innerlich auf dieses Bild vorzubereiten versucht hatte, so wenig war es ihr gelungen, sich tatsächlich zu wappnen.
Sie drehte sich um und stolperte den Gang zurück, so schnell sie konnte und ohne Rücksicht darauf, dass sie mit ihren Armen und Schultern immer wieder gegen die Wände stieß und sich blutige Schrammen und Kratzer zuzog. Einmal knickte sie mit dem Fuß um, und ein stechender Schmerz zog ihr Bein hinauf, aber um nichts in der Welt wäre sie stehen geblieben. Sie humpelte durch die Felsöffnung nach draußen, hinein in das Licht des Tages, in die Frische des Regens. Sie sank auf die Knie und erbrach sich in den Farn. Wieder und wieder. Als wolle sie nicht nur ihr Essen loswerden und den ganzen verdammten Tee, den sie getrunken hatte, sondern auch den Horror, in den sie geraten war, den Schrecken, der ihr Leben seit einiger Zeit so fest und gnadenlos umklammert hielt. Sie spuckte Schleim und Galle, und als nichts mehr ging, hockte sie sich in das nasse Gras, wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über den Mund und stellte dabei fest, dass ihre Hand haltlos zitterte.
Sie zog die Beine eng an den Körper, schlang die Arme fest um sie herum. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Der Regen war wieder stärker geworden, aber das nahm sie fast teilnahmslos hin. Ab und zu hob sie den Blick hinauf in die Wolken, ließ ihn dann wieder durch das kleine Tal schweifen, das friedlich wirkte mit seinen wilden Blumen, dem Wald darüber auf der Anhöhe, den nassen Felsplatten im Boden, den dicken Matten aus Moos, die sie stellenweise bedeckten.
Das Tal des Fuchses.
Ryan, der Fuchs.
Und Debbie, die dort drinnen jetzt mutterseelenallein versuchte, seinem düsteren Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wie schaffte sie das? Wie stark war diese Frau? Deshalb also gelang es Ryan nicht, sie loszulassen, deshalb zog es ihn immer wieder zu ihr hin. In seiner Schwäche musste sie ihm als der einzige Halt in seinem Leben, als sein Anker, seine Hoffnung erscheinen. Von Debbie wollte er sich durch das Leben tragen lassen, weil er allein bei jedem einzelnen Schritt, den er tat, strauchelte. Aber Debbie wollte ihn schon lange nicht mehr halten, und nach alldem würde sie es noch weniger wollen. Auch das machte ihre Stärke aus: die Kraft, abzustoßen, was sie hinunterzog. Sogar dann, wenn es ihr selbst wehtat.
Nora hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie aus der Dunkelheit ans Licht gestolpert war. Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Vielleicht tausend Jahre. Genug Zeit, dass die Welt nie wieder die sein würde, die sie gewesen war.
Sie vernahm ein Geräusch und blickte zum Eingang der Höhle hin. Debbie war dort aufgetaucht. Sie hielt noch ihre Taschenlampe in der Hand, nicht aber den Schraubenzieher. Sie hatte eine Gesichtsfarbe, wie Nora sie noch nie an einem lebenden Menschen gesehen hatte, ein wächsernes Gelb. Ihre Mutter hatte diese Farbe gehabt, nachdem sie im Krankenhaus gestorben war. Debbies Haut schien von einem feuchten Film überzogen, der aussah, als fühle er sich eiskalt an.
Sie machte ein paar wackelige Schritte zu Nora hin und
Weitere Kostenlose Bücher