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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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auf irgendeinem obskuren Weg doch ihre Fesseln losgeworden und schlichen gerade die Treppe zu ihm hinauf, erfüllte ihn jäh mit Panik.
    Lautlos glitt er von dem Sofa, schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Gewohnheitsmäßig strich er sich mit der einen Hand glättend über die Haare und erstarrte, als er die kurzen Stoppeln statt der wirren Locken fühlte. Dann fiel es ihm wieder ein. Seine Verwandlung.
    Er schaltete kein Licht an und trat an die geöffnete Zimmertür, lauschte ins Treppenhaus. Er konnte nichts hören. Kein leises Tappen, kein unterdrücktes Atmen. Was allerdings nicht hieß, dass sie sich nicht irgendwo dort herumtrieben. Er überlegte, ob er eigentlich nach seiner letzten Kontrolle die Tür zur Praxis wirklich abgeschlossen oder nur hinter sich zugezogen hatte. Er wusste es nicht mehr genau. Wahrscheinlich abgeschlossen, oder? Und dann konnten sie eigentlich aus dem Raum nicht ins Haus kommen. Dann blieb ihnen nur der Weg in den Garten. Aber unmöglich konnten sie die altersschwachen, knarrenden Läden öffnen, ohne dass er es hörte.
    Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Die Tür zu Harrys Schlafzimmer stand offen, und direkt vor dem Fenster befand sich eine Straßenlaterne, von deren Schein ein wenig Licht auch bis in das Treppenhaus sickerte. Ryan spähte nach unten. Niemand, soweit er das erkennen konnte. Aus der Küche, die dem Treppenaufgang gegenüberlag, vernahm er das gleichmäßige und ziemlich laute Brummen des altertümlichen Kühlschranks.
    Am Ende hatte er sich wirklich alles nur eingebildet.
    Dennoch, er musste die Gefangenen kontrollieren, sonst fand er keine Ruhe.
    Er huschte die Treppe hinunter, vermied die losen Dielen und blieb unten im Gang stehen. Er wünschte, der Kühlschrank wäre leiser, es war schwierig, andere feine Geräusche neben ihm auszumachen. Er bewegte sich langsam auf die geschlossene Tür der Praxis zu.
    Und da vernahm er es.
    Ein leises Wispern.
    »Ja, Ryan Lee. Ganz sicher. Pleasant Street, in Morriston. Ja, er schläft. Bitte, beeilen Sie sich!« Es war unverkennbar Vivian, die diese Worte hauchte. »Ja. Bitte, schnell!«
    Wie war die verdammte Schlampe ihren Knebel losgeworden? Und mit wem sprach sie? Wohl kaum mit Harry. Dem würde sie nicht seine eigene Adresse nennen und ihn darüber hinaus bitten, sich zu beeilen. Es gab im Grunde nur eine einzige Erklärung: Vivian informierte soeben die Polizei über die Situation, was bedeutete, dass sie sich nicht nur befreit hatte, sondern auch irgendwie in den Besitz eines Telefons gelangt war. Er hatte den tragbaren Apparat, der zum Festnetz gehörte, an sich genommen, ihr Handy ebenfalls. Woher …?
    Es war nicht der Moment, diese Frage zu klären. Die Polizei würde in spätestens zehn Minuten hier sein. Er schloss die Tür auf – er hatte sie tatsächlich abgeschlossen! –, schaltete das Licht an und blickte in den Raum. Harry lag noch immer gut verschnürt in der Ecke. Aber Vivian stand mitten im Zimmer, sowohl des Knebels als auch ihrer Hand- und Fußfesseln entledigt. Sie hielt ein Handy in der Hand. Ihre schwarzen Haare hingen in wilden, zerzausten Locken über ihre Schultern, und sie starrte Ryan aus flammenden Augen an. Und vielleicht war sogar etwas wie Triumph in ihrem Blick.
    Er stürmte zu ihr hin und schlug ihr das Telefon aus der Hand. Es flog durch das ganze Zimmer und rutschte unter einen Stuhl, der in der Ecke stand.
    Vivian schrie: »Zu spät, Ryan! Damit änderst du nichts mehr!«, und er beherrschte sich in letzter Sekunde, ihr so kräftig ins Gesicht zu schlagen, dass sie für einige Zeit überhaupt nichts mehr sagen würde. Er hatte kapiert: Harrys Handy. Oh Gott, wie dumm war er gewesen! Hatte Harrys Handy schlicht vergessen, hatte es unterlassen, ihn zu durchsuchen. Er erfasste jetzt die Situation: Unter dem Kopfteil der Liege, auf der Vivian sich unbedingt hatte ausstrecken wollen, befand sich ein scharf gezackter Metallbügel, mit dessen Hilfe man die verschiedenen Höhen einstellen konnte. Daran hingen die Bänder, mit denen er Vivians Handgelenke gefesselt hatte. Es war wahrscheinlich nicht einfach für sie gewesen, sich in eine Position zu bringen, in der sie ihre Fesseln geduldig an den Kanten reiben konnte, aber sie hatte es geschafft, und schließlich waren ihre Hände frei gewesen. Der Rest war ein Kinderspiel: Sie hatte sich den Knebel aus dem Mund gezerrt, ihre Füße befreit und hatte Harrys Hosentaschen durchwühlt, weil sie schlauer war als

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