Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
erstaunt war, dass sie zu ihrem vereinbarten Termin nicht erschienen war. Danach hatte zweimal ein Mann namens Adrian angerufen, von dem Ryan annahm, es handele sich um den Lebensgefährten. Adrian wunderte sich, dass sich Vivian nicht wie sonst zwischendurch bei ihm meldete, und fragte scherzhaft, ob sie dermaßen im Shoppingrausch sei, dass sie die Welt um sich herum vergaß. Bei seinem zweiten Anruf war er schon deutlich ungeduldiger, auch nervöser. Verdammt, Vivian, wo steckst du? Du bist nicht beim Friseur gewesen, ich habe dort angerufen. Deine Kollegen wissen auch nicht, was du sonst noch vorgehabt haben könntest. Ruf mich doch bitte mal zurück, ja?
Okay, Adrian hatte keine Ahnung, das war gut, aber er klang hektisch und würde spätestens am Abend oder am nächsten Morgen Gott und die Welt mit der Suche nach Vivian behelligen und dabei womöglich auf jemanden treffen, der doch in ihren Termin bei Harry eingeweiht war. Am Ende ging Adrian sogar zur Polizei. Ryan spähte durch das Küchenfenster hinaus auf die Straße, wo Vivians Auto direkt vor Harrys Haus parkte. Am liebsten hätte er es irgendwohin gefahren, weit weg, aber dann hätte er durch die Siedlung zurücklaufen müssen, und das wollte er nicht, nachdem vermutlich jeder hier am Morgen sein Bild in der Zeitung gesehen hatte. Ihm ging auf, dass Harrys Haus doch keine so sichere Burg darstellte, wie er zuerst geglaubt hatte. Er durfte nichts überhasten, aber auch keine Zeit verschwenden. Und er musste alles bedenken: Zum Beispiel konnten ihm im Augenblick die Nachrichten auf Vivians Handymailbox noch wertvolle Auskunft über den Stand der Dinge geben, aber bevor er schlafen ging, musste er das Telefon unbedingt ausschalten, damit Vivians Aufenthalt nicht zu orten war. Da sie ihren Code nicht preisgeben würde, konnte er es anschließend kaum mehr aktivieren, daher würde er den Moment, da er sich von dieser Informationsquelle trennte, möglichst weit hinausschieben. Er durfte bloß nicht zu lange warten.
Am frühen Abend ging er zu seinen Gefangenen in das dunkle Zimmer. Er knipste das Licht an, und beide blinzelten heftig mit den Augen. Harry war inzwischen aufgewacht und gab dumpfe Laute unter seinem Knebel von sich. Seine Hose war nass. Ryan hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass die beiden auch zur Toilette mussten. Er zögerte, entschied dann aber, dass Harry leider weiterhin keine Alternative hatte. Ihn auf einen Eimer zu setzen und diesen später auszuleeren hätte ihn zu sehr geekelt, und ihn so weit zu befreien, dass man ihn die Treppe hinauf ins Bad bringen konnte, erschien ihm zu riskant. So mager er war, Harry besaß doch die kräftigen Arme eines ausgebildeten Physiotherapeuten, der von morgens bis abends Körper massierte und Muskeln knetete. Auch wenn er mangels Patienten etwas aus der Übung sein dürfte, hatte er sicher noch nicht so weit abgebaut, dass er keine Gefahr darstellte.
Bei Vivian machte er sich weniger Sorgen. Sie übte denselben Job aus wie Harry, aber sie war eine Frau. Er ging davon aus, dass er im Zweifelsfall mit ihr fertigwerden würde.
Auch Vivian versuchte verzweifelt, sich unter dem Knebel verständlich zu machen, und rollte dazu wild mit den Augen. Ryan ging zu ihr hin, riss das Pflaster ab und nahm ihr die Socke aus dem Mund. Er sah, dass ihre Lippen geschwollen und aufgesprungen waren.
»Wasser«, stieß sie hervor, »oh Gott, Wasser!«
Er lief in die Küche und kehrte mit einer Flasche Mineralwasser zurück, die er ihr an den Mund setzte. Sie trank, als ginge es um ihr Leben. Als sie fertig war, sagte sie: »Ich muss dringend zur Toilette, bitte!«
»Wenn du irgendwelche Probleme machst, dann war das das letzte Mal«, warnte er sie. »Dann lasse ich dich in deinem Dreck liegen wie Harry. Verstanden?«
Sie wirkte vollkommen eingeschüchtert. »Ja. Verstanden.«
Er band sie von dem Regal los, befreite sie von ihren Fesseln um die Knöchel und half ihr auf die Füße. Während der ersten zwei Minuten konnte sie kaum stehen. Das verletzte Gelenk war stark angeschwollen, viel schlimmer als am Morgen. Als sie sich schließlich in der Lage sah, im Zeitlupentempo aus dem Zimmer zu humpeln, wusste Ryan, dass sie tatsächlich keine große Gefahr darstellte. Sie hatte Schmerzen und konnte sich nur schwer bewegen.
Oben bekam sie eine Krise, als ihr klar wurde, dass Ryan nicht vorhatte, sie im Bad allein zu lassen.
»Ich kann nicht auf die Toilette gehen, wenn jemand dabei ist«, sagte sie entsetzt, aber
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