Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Mansardenzimmer vielleicht, ohne Kerzen und Servietten, dafür mit einer Flasche Bier in der einen Hand und einer Tüte von McDonald’s in der anderen. Er könnte er selbst sein. Aber zugleich wusste er, dass es sein Untergang wäre, allein zu sein. Er hätte den Schritt in die Freiheit dann noch schlechter verkraftet.
Sie prosteten einander zu.
»Auf dein neues Leben«, sagte Nora feierlich.
Er nahm einen Schluck Wein. Er kannte sich nicht aus, aber der Wein schmeckte ihm. Alkohol, nach langer Zeit. Er musste aufpassen, dass er nicht ganz schnell betrunken war.
»Warum tust du das?«, fragte er.
Sie sah ihn erstaunt an. »Was?«
»Na, das mit mir. Du kaufst mir Klamotten. Nimmst mich hier auf. Du …« Er wies auf den Tisch. »Du machst alles so schön …«
»Ich mache das gerne«, sagte Nora sanft. »Wir sind Freunde, oder? Glaubst du, ich lasse einen Freund hängen? Wohin hättest du denn gehen sollen?«
»Ich habe etwas Geld …«
»Wie weit kommst du damit?«
»Nicht weit«, musste er einräumen.
»Du hast eine schwere Zeit hinter dir. Du musst dich erst wieder im Alltag zurechtfinden. Und dabei würde ich dir gerne helfen.« Sie lächelte schüchtern. »Ich bin doch auch nicht gerne allein. Ich finde es schön, dass du jetzt hier wohnst.«
Er betrachtete sie. Im Gefängnis, als sie ihn besuchte, war sie ihm wie eine Art Institution vorgekommen, nicht wie eine Frau. Er hatte alles Mögliche in ihr gesehen, eine Mischung aus Psychotherapeutin, Krankenschwester, Mutter vielleicht sogar, obwohl sie jünger war als er. Zusammengefasst zu einer Helferin, reduziert auf das, was sie ihm an Hilfe und Unterstützung brachte. Dabei war sie in seinen Augen gänzlich geschlechtslos geblieben.
Zum ersten Mal jetzt sah er die Frau, die sie war.
Sie war nicht sein Typ, obwohl sie eigentlich ganz hübsch war. Klein, aber recht kräftig, was an ihrer Arbeit lag, wie sie ihm einmal erzählt hatte. Den ganzen Tag über massierte sie Leute und unterstützte sie bei komplizierten Übungen, die sie aus eigener Kraft nicht bewältigen konnten, daher kamen die Muskeln. Sie hatte schulterlange blonde Haare und große blaue Augen. Sie war wirklich attraktiv. Komisch eigentlich, dass sie keinen Freund hatte. Sie hatte ihm von mehreren gescheiterten Beziehungen berichtet, aber sie hatte nicht sagen können, weshalb kein Mann lange bei ihr blieb.
Vielleicht bist du zu fürsorglich, dachte er jetzt auf einmal, vielleicht hat man irgendwann das Gefühl, man erstickt neben dir. An dir.
Aber dann dachte er, dass das wahrscheinlich nur ihm so ging. Für ihn war die ganze Situation gerade ein Zuviel, zu viel von allem, aber das lag natürlich an seiner Geschichte. Der erste Abend jenseits der Gefängnismauern. Er wäre jetzt überall in eine Krise geraten. Keinesfalls durfte er Nora die Schuld geben.
»Morgen gehe ich zu meinem Bewährungshelfer«, sagte er. »Wir sind um zehn Uhr verabredet. Ich hoffe, es klappt mit einer Arbeit.«
»Wenn du willst, kannst du mein Auto haben«, bot Nora an. »Ich gehe meist zu Fuß ins Krankenhaus, es sei denn, es regnet in Strömen. Aber danach sieht es nicht aus.«
»Dein Auto? Sicher?«
»Natürlich. Hör mal, Ryan«, sie beugte sich über den Tisch nach vorn, sah ihn eindringlich an. »Das hier ist dein Zuhause, solange du das möchtest. Und du kannst alles hier benutzen, alles, was mir gehört. Du brauchst nicht zu fragen. Bitte, fühl dich daheim. Nicht als Gast.«
»Danke«, sagte er. Als ob das so auf Befehl ginge. Aber sie meinte es gut. Sie wollte wirklich, dass er sich wohlfühlte.
»Du musst etwas essen, Ryan. Du hast fast dein ganzes Weinglas leer getrunken. Nimm doch ein Baguette. Und etwas Käse?«
Er atmete tief. »Ich kann nicht. Ich kann gerade nichts essen.«
»Was ist los?«
Er stand abrupt auf. Seine Serviette rutschte ihm vom Schoß und landete unter dem Tisch. »Ich muss einfach einen Moment lang allein sein. Bitte versteh das!«
Sie erhob sich ebenfalls. »Möchtest du ein Stück spazieren gehen? Soll ich mitkommen? Wir könnten zum Hafen …«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte in mein Zimmer gehen . Ich bin todmüde. Es tut mir leid.«
»Es muss dir doch nicht leidtun. Ich kann das verstehen.« Aber sie sah ziemlich verstört aus. Sie hatte sich Mühe gegeben mit der ganzen Inszenierung, und nun fragte sie sich wahrscheinlich, was sie falsch gemacht hatte.
Nichts. Aber mit mir kann man nichts richtig machen.
Ohne ein weiteres Wort verschwand
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