Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Distanz zu wahren. Ich meine, bislang saß er hinter Schloss und Riegel, und du hattest es völlig in der Hand, wie weit du auf ihn zugehen willst. Jetzt kann er sich frei bewegen. Ich hoffe, er wird nicht zu einem Problem.«
»Bestimmt nicht«, meinte Nora unbehaglich.
»Du musst dich jetzt klar abgrenzen«, sagte Vivian.
Nora holte ein zweites Mal tief Luft. Nun kam der eigentliche Paukenschlag. »Er wird vorläufig bei mir wohnen.«
Vivian fuhr herum. »Was?«
»Vivian, wo soll er denn hin? Er hat nichts. Zu seiner Mutter kann er nicht gehen, weil ihn sein Stiefvater nicht akzeptiert. Er hat kaum Freunde, er hat noch keinen sicheren Job, bislang nur ein vages Angebot, das sein Bewährungshelfer an Land gezogen hat. Und er hat Angst, dass er … Er hat sich wirklich geändert, und er will ein neues Leben anfangen, aber dazu braucht er Hilfe. Sonst rutscht er wieder ab, und davor fürchtet er sich entsetzlich.«
»Ich fasse es nicht«, sagte Vivian. »Ich fasse es einfach nicht! Ein Mann, der wegen schwerer Körperverletzung …«
»Es war keine Absicht.«
»Na und? Er hat einen Mann so zusammengeschlagen, dass dieser über viele Wochen im Krankenhaus liegen musste. Und davor, also vor dieser Tat, die ihn ins Gefängnis gebracht hat, war er auch kein Kind von Traurigkeit, nach allem, was du erzählt hast!«
Nora erwiderte nichts. Sie bereute es, dass sie sich ihrer Freundin überhaupt jemals ausführlich anvertraut hatte. Es wäre auf Dauer schwierig gewesen, Ryans Lebensumstände völlig zu verheimlichen, aber sie hätte seine zahlreichen Kollisionen mit dem Gesetz wohl besser unerwähnt gelassen.
»Ich meine, wie kannst du sicher sein, dass er sich geändert hat?«, fuhr Vivian fort. »Er kann dir doch alles erzählen! Und er wäre ja blöd, wenn er sich nicht im blütenweißen Gewand präsentieren würde. Natürlich hat er genau darauf spekuliert: dass du ihn bei dir aufnimmst und von nun an durchfütterst. Damit er bloß nicht zum ersten Mal in seinem Leben in die Verlegenheit kommt, es einmal mit Arbeit versuchen zu müssen.«
»Es stimmt nicht, dass er noch nie gearbeitet hätte«, widersprach Nora. »Als er festgenommen wurde zum Beispiel, war er gerade für eine Wäscherei tätig. Als Fahrer. Und auch davor schon hatte er …«
»… Gelegenheitsjobs. In denen er es nie besonders lange aushielt.«
Nora biss sich auf die Lippen. Im Augenblick gab es wahrscheinlich kein Argument, das Vivian gnädig gestimmt hätte.
»Na ja, wie auch immer«, sagte sie. »Ich wollte, dass du Bescheid weißt. Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Ich hole Ryan heute Mittag in Swansea ab.« Sie schaute auf die Uhr. »Wir müssen los!«
»Seltsam«, sagte Vivian. »Ich habe mir das eigentlich von Anfang an gedacht. Aber ich wollte es nicht wirklich wahrhaben.«
»Was denn?«
»Es ging dir einfach nur darum, einen Kerl zu finden. Und du dachtest dir, wenn das auf normalem Weg einfach nicht klappen will, dann besorgst du dir eben jemanden auf unkonventionelle Weise. Jemanden, der total abhängig von dir ist und deswegen vielleicht bei dir bleibt. Daher dein plötzliches Engagement für einen Strafgefangenen.«
»Blödsinn«, erwiderte Nora, aber sie fühlte sich getroffen. Sie hatte sich etwa ein Jahr zuvor mit einer Organisation in Verbindung gesetzt, die sich bemühte, für Strafgefangene, die ohne Angehörige waren oder deren Angehörige sich nicht kümmerten, Bezugspersonen zu finden, die zu ihren Ansprechpartnern wurden. Ihnen Briefe schrieben, sie besuchten. Ihnen das Gefühl vermittelten, dass es die Welt draußen noch immer gab und dass sie die Verbindung zu ihr nicht völlig verloren. Nora war im Internet auf die Homepage des Vereins gestoßen und hatte sich von seinen Zielen und seiner Argumentation sofort angesprochen gefühlt. Vielleicht hatte Vivian nicht ganz unrecht: Es war nicht darum gegangen, einen Kerl zu finden, wie sie es ihr schroff vorgeworfen hatte, sondern es war darum gegangen, einen Menschen zu finden, der vielleicht irgendwann zu ihr gehören würde.
Aber natürlich, sie war mit ihrem Projekt auf Vorbehalte gestoßen, nicht nur bei ihrer besten Freundin. Zwei Kolleginnen im Krankenhaus, die sie auch privat öfter traf, hatte sie frühzeitig eingeweiht. Sie hatten ziemlich entsetzt reagiert.
»Ein Strafgefangener ? Du willst dich jahrelang einmal im Monat mit einem Mann im Gefängnis treffen? Was, um Himmels willen, versprichst du dir davon? Und denkst du ernsthaft, der kennt dich
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