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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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noch, wenn er erst mal rauskommt?«
    Aber nun, da Ryan nach seiner Entlassung sogar bei ihr einziehen sollte, war es auch nicht recht. Zeitweise hatte Vivian vorher ziemlich laut getönt, Ryan werde sich als undankbarer Kerl erweisen, der keinen Blick mehr für Nora übrig haben würde, wenn er de m Gefängnis erst entkommen wäre. Nun geriet sie außer sich, als sie von der neuesten Entwicklung hörte.
    »Hast du eigentlich keine Angst?«, fragte sie jetzt.
    Angst vor Ryan? Vor diesem traurigen Mann mit den schönen Augen, der so entsetzlich unter dem Gefängnisalltag litt und alles gegeben hätte, seine Tat ungeschehen zu machen? Wenn Nora je den Eindruck gehabt hatte, einem aufrichtig reuigen S ünder gegenüberzustehen, dann war das bei Ryan Lee der Fall.
    Ich wollte doch nicht, dass der Junge sich den Schädel bricht, um Gottes willen! Es war ein Unglück. Einfach ein Unglück!
    Er hatte ihr von seiner trostlosen Jugend erzählt. Am Anfang war es noch okay gewesen, sie hatten in Camrose gewohnt, wo seine Eltern ein Bed & Breakfast betrieben hatten, aber dann – Ryan war damals vier gewesen – war sein Vater gestorben, seine Mutter hatte wieder geheiratet, und mit dem Stiefvater und seinem Hang zum Alkohol war schließlich alles den Bach hinuntergegangen; sie hatten ihr Haus verkaufen müssen und waren nach Swansea gezogen, wo sie in einem der sozial schwächsten Viertel landeten. Ryan empfand die Familienwohnung zunehmend als einen Ort des Grauens, weil nie abzuschätzen war, in welcher Stimmung sich der stets betrunkene, allzu leicht gewaltbereite Stiefvater gerade befand. Ryan fing an, die Schule zu schwänzen, brach schließlich ohne Abschluss ab. Hangelte sich durch ein paar Jobs, bewegte sich in den falschen Kreisen. Wurde immer wieder zu Straftaten angestiftet, kleine Delikte, aber er kam aus der Spirale nicht heraus. Zunehmend frustriert wurde er aggressiver, und so geriet er immer häufiger in tätliche Auseinandersetzungen und schwere Schlägereien. Bis hin zu dem Fiasko am Abend des 20. August 2009. Als er sich mit einem Jungen prügelte, der dann unglücklich stürzte und …
    Er hatte an einem Anti-Aggressions-Training im Gefängnis teilgenommen, wie er Nora bei einem ihrer Besuche berichtete.
    Ich kann jetzt damit umgehen, wenn mir jemand dumm kommt. Ich weiß, dass Zuschlagen keine Lösung ist. Ich muss mich nicht mehr mit allen Mitteln wehren. Ich kann die Angreifer auch einfach ignorieren. Ihnen aus dem Weg gehen.
    All das hatte Nora Vivian immer wieder erzählt, ohne die Skepsis der Freundin aufzuweichen.
    »Woher willst du denn wissen, dass das alles so stimmt? Seine traurige Jugend und das alles. Er kann dir doch erzählen, was er will. Merkst du nicht, dass bei seinen Schilderungen immer nur die anderen schuld sind? Seine Eltern, seine Freunde, die Umstände … Wenn du mich fragst, er hat nichts begriffen!«
    Auch das Anti-Aggressions-Training hatte sie nicht beeindruckt. »Und wenn schon! Weißt du, ob er wirklich ein anderer geworden ist? Klar, im Knast reißen sie sich immer zusammen, sie wollen ja vorzeitig entlassen werden. Die echte Bewährungsprobe kommt erst draußen, und ich finde es ausgesprochen beunruhigend, dass du womöglich diejenige bist, die es zuerst trifft, wenn er wieder ausrastet!«
    »Lern ihn doch erst einmal kennen«, hatte Nora gesagt, und Vivian hatte mit hochgezogenen Augenbrauen entgegnet: »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das will!«
    In dem Punkt machte sich Nora allerdings keine Sorgen. Vivian war viel zu neugierig. Sie würde es sich nie im Leben entgehen lassen, einen echten Exsträfling näher kennenzulernen.
    »Wir müssen wirklich los«, wiederholte sie nun, trat in den Flur und öffnete die Tür, die ins Treppenhaus führte.
    Vivian folgte ihr aus dem Wohnzimmer. »Du könntest dich doch um ihn kümmern, ihn aber woanders wohnen lassen.«
    »Es ist alles geplant, Vivian. Und vorbereitet.«
    »Ich kann es dir wahrscheinlich nicht ausreden, oder?«
    »Nein«, sagte Nora.
    Da hatte Vivian in der Tat keine Chance. Nora freute sich so sehr auf Ryan.
    Sie freute sich so sehr, nicht mehr länger allein sein zu müssen.
    4
    Er kam sich vor wie jemand, der erste zögernde Schritte auf einem fremden Planeten geht.
    Davon hatte es wirklich etwas: von einem fremden Planeten.
    Nach zweieinhalb Jahren Gefängnis schien das alles wie ein seltsamer Traum – das mit weißer, duftender Wäsche bezogene Bett und der Tulpenstrauß im Gästezimmer, das schön geflieste

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