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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Na ja, Dan sicher nicht. Aber letztlich fühlte er sich in dessen Nähe fast noch am wohlsten. Dan behandelte ihn wie Dreck, aber wenigstens gab er ihm nicht dauernd das Gefühl, ein völlig unselbstst ändiges Wesen zu sein, das sich ganz der Fürsorge anderer anvertrauen musste, um überhaupt überleben zu können. Die Sprache, die Dan sprach, roh und verletzend, kannte er aus dem Gefängnis. Noras Sprache und ihr ganzes Verhalten hingegen überforderten ihn. Die Frau machte ihn zu ihrem Geschöpf, fast zu ihrem Besitz. Sie bekochte ihn, sie wusch seine Wäsche, sie brachte ihm Geschenke mit, Kleinigkeiten, ein Paar neue Socken, ein Hemd, ein Buch, von dem er geredet hatte. Jeden Abend deckte sie nach wie vor liebevoll den Tisch, saß ihm dann mit l ächelndem Gesicht gegenüber, erzählte von ihrer Arbeit, von ihren Patienten, fragte ihn, wie es bei ihm gewesen war. Er kam sich schon fast verheiratet vor. Sie war überglücklich, ihn bei sich zu haben, sie zelebrierte ein Zusammenleben, das er nicht so empfinden konnte, wie sie es offensichtlich tat. Er argwöhnte, dass sie ihn bei allen ihren Bekannten bereits als ihren festen Freund, eine Art Lebenspartner, bezeichnete. Es konnte nicht mehr lange dauern, und sie würde ihn vorführen wollen.
    Nur zu, dachte er fast gehässig, mal sehen, was deine Freunde zu meinem Lebenslauf sagen. Mehrfach vorbestraft und dann zweieinhalb Jahre im Gef än gnis wegen einer Gewalttat. Oder wirst du mir eine andere Biographie verpassen, ehe du mich offiziell herumzeigst?
    Er schlenderte an diesem Freitag besonders langsam nach Hause, obwohl er wusste, dass Nora erst um halb sechs da sein würde. Er hatte Angst, dass sie wieder von dem vor ihnen liegenden gemeinsamen Wochenende anfangen würde, genauer gesagt: vom Sonntag.
    »Wir sollten irgendetwas Schönes zusammen unternehmen«, hatte sie am gestrigen Abend vorgeschlagen und dann mit leuchtenden Augen hinzugefügt: »Wollen wir ein wenig im Coast Park herumfahren, und ich zeige dir die Stellen, die ich besonders mag?«
    Er war zusammengezuckt, als habe ihn ein Messerstich getroffen.
    »Ich … weiß nicht.« Verzweifelt hatte er überlegt, welche überzeugende Ausrede er benutzen könnte. Schließlich hatte er sich für die Wahrheit entschieden, jedenfalls für eine Teilwahrheit. »Den Coast Park hatte ich als Kind ja direkt vor der Nase. Wir haben doch einige Zeit in Camrose …«
    Ihr fiel ein, dass er ihr das ja schon im Gefängnis erzählt hatte. »Stimmt. Du hast ja in Camrose gelebt.«
    »Ja.« Er hatte sich gefragt, ob sie es ihm eigentlich ansehen konnte in diesem Moment. Dass ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach – genau wie an jenem Abend – und dass sein Mund in Sekundenschnelle völlig austrocknete – genau wie an jenem Abend – und dass er seinen Herzschlag im Kopf dröhnen hörte – genau wie an jenem Abend. Er dachte, dass sie merken musste, dass er gerade völlig durcheinandergeriet, aber sie blickte ihn unbefangen an, lächelte erwartungsvoll.
    »Dann könntest du mir ja auch deine Lieblingsplätze zeigen, Ryan. Vielleicht würde ich mehr über das Kind erfahren, das du gewesen bist.«
    Oh ja! Fangen wir doch mit dem Fox Valley an! Ich könnte dir das Versteck zeigen, in das sich der kleine Junge so gerne zurückzog. Die Höhle, die nur mir gehörte. Die bis heute nur mir gehört. Unglücklicherweise würden wir darin etwas finden, das …
    Nicht einmal in Gedanken konnte er weitergehen als bis zu diesem Punkt. Er konnte nicht an das denken, was sie in der Höhle finden würden. Er konnte es nur verdrängen, irgendwohin schieben, wo er es selbst nicht mehr erreichte. Er hatte diese Strategie in den ersten Monaten im Gefängnis entwickelt, weil er sonst wahnsinnig geworden wäre. Er wusste selbst nicht, wie ihm das gelungen war, aber er hatte gelernt, sich von dem Geschehenen abzuspalten. Es war passiert, aber es hatte nichts mit ihm zu tun. Ein anderer Ryan aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben war damals in eine fürchterliche Situation geschlittert, in der sich alle möglichen ungünstigen Umstände gegen ihn verschworen hatten. Er durfte über diesen Ryan nicht nachdenken. Immer wenn er in seine Nähe kam, wurde ihm schwindelig und übel, und manchmal bekam er sogar Fieber. Auch wie damals.
    Er ging jetzt schneller, um seine Gedanken besser abschütteln zu können. Er hatte sich in Sicherheit bringen können, indem er Nora erklärte, eben gerade mit seiner Kindheit nicht konfrontiert

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