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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Nächstenliebe eingestellt hatte. Der Copyshop wurde nicht allzu sehr frequentiert, und im Grunde konnte ein Mann allein die anfallende Arbeit völlig problemlos bewältigen. Dan hatte einfach jemanden gesucht, den er schikanieren und herumscheuchen konnte, und er empfand es sichtlich als eine Aufwertung seiner eigenen Person, nun einen Angestellten zu haben. Er fühlte sich fast schon als Großunternehmer. Hinzu kam, dass er nur einen geringen Teil von Ryans Lohn selbst bezahlen musste, zwei Drittel trug der Staat im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms. Das machte die ganze Sache für Dan auch noch lukrativ. Er war ein sehr kleiner Mann, kaum über ein Meter sechzig, wie Ryan schätzte, und er schien das damit kompensieren zu wollen, dass er sich wie ein Feldherr aufführte. Ryan war zwei Köpfe größer als er und trotz des Gefängnisaufenthaltes muskulös und gut trainiert. Er hatte im Knast jede Möglichkeit wahrgenommen, sich fit zu halten, und war daher in beinahe besserer Form als zuvor. Er konnte spüren, dass Dan ihn für seine Größe hasste, für seine gute Figur, für seine Körperkraft. Er behandelte ihn herablassend, nannte ihn manchmal nicht einmal bei seinem Namen, sondern rief ihn Knasti. Ryan schluckte dann und tat so, als berühre ihn der abwertende Ausdruck nicht. Immerhin bewies ihm die Situation, dass sein Anti-Aggressions-Training tatsächlich etwas in ihm verändert hatte. Er wusste, früher wäre er spätestens beim dritten oder vierten Mal ausgetickt und hätte seine Faust in Dans blödes Gesicht krachen lassen, und zwar so, dass dieser anschließend einen Schönheitschirurgen gebraucht hätte. Dann wäre der Job weg gewesen und die Bewährung auch, und er wäre wieder im Gefängnis gelandet. Es fiel ihm erstaunlich leicht, Dan zu ignorieren. Sowohl seine Beleidigungen als auch seine Schikanen: Stundenlang musste er am Kopierer stehen, musste zwischendurch Kaffee kochen und das Mittagessen vom Schnellimbiss holen, musste Botengänge erledigen und im Grunde Dan, der meist nur noch in Motorradzeitschriften vertieft in der Ecke lümmelte, von vorne bis hinten bedienen. Normalerweise hätte er auch am Freitag nicht früher nach Hause gedurft, aber Dans Freundin war im Laden aufgekreuzt, und es war deutlich geworden, dass sie mit Dan allein sein wollte.
    »Mach dir ’n netten Nachmittag, Knasti«, hatte Dan gönnerhaft gesagt. »Du kannst für heute gehen. Bis morgen!«
    Der Shop war natürlich auch am Samstag geöffnet. Aber das störte Ryan nicht. Besser, als das ganze Wochenende in Noras Wohnung herumzuhängen.
    Er ließ sich Zeit mit dem Heimweg. Trotz Noras Angebot, jederzeit ihr Auto zu benutzen, hatte er sich entschieden, täglich zu Fuß zur Arbeit zu gehen, obwohl er deswegen eine Viertelstunde früher aufstehen musste. Aber er wollte nicht noch abhängiger von ihr werden, als er es ohnehin schon war. Er verdiente jetzt etwas Geld, aber es reichte nicht für eine eigene Wohnung, er hätte höchstens irgendwo ein Zimmer zur Untermiete nehmen können. Außerdem befürwortete Melvin Cox sein Zusammenleben mit Nora.
    »Bleib unbedingt bei deiner Freundin«, hatte er gleich im ersten Gespräch gesagt. »Emotionale Stabilität ist jetzt ungemein wichtig für dich!«
    »Sie ist nicht meine Freundin«, hatte Ryan erwidert.
    »Aber sie ist ein Anker. Ein Mensch, der dir Halt gibt, der sich um dich kümmert. Ryan«, Melvin hatte sehr ernst gewirkt, »Ryan, es ist wichtig, dass du jetzt kein Risiko eingehst. Du darfst nicht in alte Muster abrutschen. Dazu gehört vor allem: kein Kontakt mit alten Freunden. Das sind die Leute, die du unbedingt meiden musst. Unterschätze nicht, wie einsam du dich plötzlich fühlen könntest und wie groß dann die Gefahr wäre, doch wieder an Türen zu klopfen, hinter denen nichts Gutes auf dich wartet. In Nora Franklin hast du einen Menschen, der einfach für dich da ist. Sie ist eine sympathische, bodenständige Frau, die dir sehr zugetan ist. Nimm diese Chance an!«
    Ihm war bei diesem Gespräch erstmals aufgegangen, dass sein Bewährungshelfer und Nora einander offenbar kannten, und er hatte sie abends darauf angesprochen. Sie räumte ein, dass Melvin sie einige Tage vor Ryans Haftentlassung aufgesucht und mit ihr gesprochen hatte.
    »Wir haben uns gut verstanden, Ryan. Und wir waren uns ganz einig, dass wir dir unbedingt helfen wollen. Er ist ein netter Mann. Er meint es gut mit dir!«
    Ja, klar. Er meinte es gut. Nora meinte es gut. Alle meinten es gut.

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