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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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werden zu wollen, und sie hatte den Plan, in den Park zu fahren, ziemlich enttäuscht fallengelassen – so enttäuscht, dass ihm klar war, sie würde einen neuen Versuch starten. Schon deshalb, weil sie genau auf Details seiner Kindheit scharf war. Sie wollte ihn als den Menschen, der er war, durchdringen. Sie war der Typ Frau, der man die Wohnung zeigen musste, in der man als Baby gelebt hatte, die Schule, in die man gegangen war, die Parkbank, auf der man geknutscht hatte. Und umgekehrt musste man all die wichtigen Stationen ihres Lebens natürlich auch kennenlernen. Für sie bedeutete das Freundschaft oder sogar Liebe.
    Für ihn war es der Horror.
    Plötzlich wusste er, dass er diesen Freitagabend nicht aushalten würde. Nicht weil er Nora schrecklich gefunden hätte. Aber ihre Normalität schien ihn auf einmal nahezu ersticken zu wollen: Nora und der gedeckte Tisch, die Kerzen, der Wein, ihr Lächeln, ihr Plaudern auf der einen Seite. Und sein Gefühl vollkommener Verlassenheit auf der anderen. Diese unmittelbare Nähe zu einem Menschen, der es gut mit ihm meinte. Und trotzdem schlimmer und qualvoller allein zu sein, als er es im Knast je gewesen war.
    Er hatte das Haus erreicht, lief nach oben und betrat die Wohnung. Er griff nach dem Autoschlüssel, der neben der Tür am Schlüsselbrett hing, griff ihn wie ein Ertrinkender den Strohhalm. Sie hatte ihm angeboten, dass er das Auto haben durfte, wann immer er es brauchte.
    Jetzt war der Moment gekommen.
    8
    Es erstaunte ihn, dass alles so völlig unverändert aussah. Dabei war das eigentlich ganz normal: Zweieinhalb Jahre waren keine lange Zeit, was hätte schon anders sein sollen? Aber da ihm sein eigenes Leben wie entwurzelt schien, aus allen Verankerungen gerissen, herumgewirbelt und in nichts mehr vergleichbar mit allem Früheren, verwunderte es ihn dennoch, dass die Welt um ihn herum sich vollkommen treu geblieben war. Er hatte, wie früher auch, sein Auto, das eigentlich natürlich Noras Auto war, in einiger Entfernung von Debbies Wohnung geparkt und ging nun die vertrauten Straßen entlang und erkannte alles wieder: Den Parkplatz an der Ecke Glenmorgan Street gab es noch, ebenso das Obdachlosenheim, und zwei Häuser weiter stand eine Schüssel mit Milch für die Katze vor der Tür, genau wie früher. Schließlich kam Ryan an das Haus, in dem Debbie wohnte. In den obersten Fenstern spiegelte sich das Licht der Abendsonne.
    Blitzartig tauchten Bilder auf: die Dunkelheit der Nacht. Die Polizisten, die auf ihn warteten. Seine ebenso verzweifelte wie vergebliche Flucht.
    Er blieb eine Sekunde lang stehen, schob die Bilder mit größter Willensanstrengung von sich.
    Das ist vorbei. Für immer.
    Er hoffte, dass Debbie zu Hause war. Er nahm an, dass sie noch immer für die Reinigungsfirma arbeitete, was bedeutete, dass sie einem ziemlich undurchschaubaren und, wie er immer gefunden hatte, chaotischen Schichtsystem unterworfen war, aber es war inzwischen nach fünf Uhr, zudem Freitag, es bestand also eine reelle Chance, sie daheim anzutreffen. Natürlich konnte es sein, dass sie nicht allein war, aber in diesem Fall musste er sich eben rasch wieder verabschieden.
    Debbie war der einzige Mensch, den er an diesem Tag zu ertragen glaubte. Vor langer Zeit waren sie ein Liebespaar gewesen, dann hatten sie sich getrennt. Genauer gesagt, Debbie hatte sich getrennt, er selbst wäre gern mit ihr zusammengeblieben. Sie hatte ihn später nicht ein einziges Mal im Gefängnis besucht oder ihm auch nur geschrieben, aber das nahm er ihr nicht übel. Er wusste, dass sie immer darum gerungen hatte, in sicherem Abstand zu seinem kriminellen Umfeld zu bleiben, niemals in diesen Bereich seines Lebens hineingezogen zu werden. Deshalb die Trennung damals, deshalb die Weigerung, mit ihm in Kontakt zu bleiben, nachdem er verhaftet worden war. Aber davor, als er keine Bleibe gehabt hatte, hatte sie ihn ohne Wenn und Aber bei sich aufgenommen. So war sie. Wenn es darauf ankam, war sie da. Ohne ihn zu bemitleiden, ohne ihn zu umsorgen, ohne ihn zu therapieren, ohne ihn zu verachten, ohne ihn zu fürchten. Für Debbie war es immer etwas Selbstverständliches gewesen: Ryan, ihr Freund, der stets in Schwierigkeiten steckte. Sie akzeptierte ihn, machte sich jedoch nie gemein mit seiner Welt.
    An diesem Tag erschien sie ihm als die einzige echte, tragende Säule in seinem Leben.
    Wie schon früher konnte man die Haustür unten einfach aufdrücken. Das Treppenhaus roch unverändert nach

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