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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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weiß. Der andere war so betrunken, dass er sich kaum wehren konnte. Ryan hat auf ihn eingeprügelt, weil der andere ihn im Suff angepöbelt hatte. Der Junge war nicht einmal wirklich verantwortlich für das, was er da von sich gab, aber er musste schließlich mit einer schweren Gehirnerschütterung und einem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert werden.«
    »Ryan wollte das nicht«, gab Nora zurück. Ihre Stimme bebte. Ryan warf ihr einen Blick von der Seite zu. Ihre Augen funkelten vor Wut. Er hatte zuerst gedacht, das Beben in ihrer Stimme rühre daher, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, aber nun erkannte er, dass sie vom Weinen weit entfernt war. Sie war einfach nur außer sich vor Zorn.
    »Wie konnte es denn dann so eskalieren?«, fragte Harry.
    »Es war so, wie ich das eben in meinem Beispiel geschildert habe«, sagte Nora. »Er ist unglücklich gestürzt und mit dem Hinterkopf auf eine Kante geknallt. Es war schreckliches Pech.«
    »Das Gericht hat anerkannt, dass ich das so nicht voraussehen konnte«, sagte Ryan. Eigentlich hatte er sich nicht rechtfertigen wollen.
    Trotzdem fügte er hinzu: »Ich habe ein Anti-Aggressions-Training gemacht im Gefängnis. Mir würde so etwas heute nicht mehr passieren. Ich habe jetzt … Mechanismen, mit denen ich mich kontrolliere.«
    »Na, da sind wir aber wirklich froh!«, sagte Vivian. »Dann müssen wir uns ja um Nora hoffentlich keine Sorgen machen!«
    »Als ob du dir überhaupt je Sorgen um mich machen würdest, Vivian«, sagte Nora. »Oder je gemacht hättest. All die Jahre, in denen ich jeden Abend allein in meiner Wohnung saß, während du mit deinen Eroberungen um die Häuser gezogen bist und ich mich einsam fühlte und eine Freundin gebraucht hätte, da warst du immer nur mit dir und deinen vielen tollen, aufregenden, umwerfenden Männern beschäftigt. Ich war dir doch egal!«
    »Ich konnte nichts an deinen Beziehungsproblemen ändern. Ich wusste ja auch nicht, weshalb nie einer bei dir andockte! Allerdings …«
    »Ja?«, fragte Nora.
    »Na ja, so langsam sehe ich klarer«, sagte Vivian. »Du brauchst eine ganz spezielle Sorte von Mann. Eine, die man da draußen nicht ohne Weiteres findet. Du musst dich absolut überlegen fühlen können, Nora. Du hast solche Komplexe, dass du einen gleichberechtigten oder gar stärkeren Mann nicht ertragen würdest. Deshalb diese aberwitzige Idee, eine Knastbekanntschaft aufzubauen. Unterlegener kann ein Mann schließlich kaum sein. Eingesperrt. Verurteilt. Und auch wenn er rauskommt, bleibt er gesellschaftlich isoliert. Für immer mit einem Makel behaftet. Ein Gewaltverbrecher. Nichts anderes. Und dadurch wird er immer auf dich angewiesen sein. Du bist seine einzige Möglichkeit, wenigstens mit einem Fuß im bürgerlichen Leben stehen zu können. Und genau das macht seinen Reiz für dich aus. Du kannst dich neben ihm so herrlich stark und sicher fühlen, Nora! Und du kannst die Hoffnung hegen, dass er bei dir bleiben wird. Im Unterschied zu all den anderen!«
    »Wie konnte ich dich als meine Freundin ansehen, Vivian«, sagte Nora. Sie war leichenblass geworden, wie Ryan feststellte. Sie wusste und er wusste, und alle im Raum wussten es vermutlich: Vivian mochte gemein und gehässig sein, aber sie hatte ins Schwarze getroffen. Sie hatte die Beziehung zwischen Ryan und Nora auf den entscheidenden Punkt gebracht.
    »Ich habe Angst um dich, Nora«, erklärte Vivian.
    »Also, ich finde, auch ein Verbrecher verdient eine zweite Chance«, fühlte sich nun Harry zu einem Beitrag verpflichtet. »Selbst ein Mörder sollte …«
    »Ich bin kein …«, setzte Ryan an, und dann reichte es ihm. Alles. Vivians Falschheit. Harrys plötzlich so salbungsvolle Art. Die Gesichter ringsum. Diese ganze grässliche Party reichte ihm. Und er fühlte etwas, das er die ganze Zeit über zu keinem Moment gefühlt hatte: dass er es jetzt war, an diesem Abend, der Nora beschützen musste. Sie hatte sich neben ihn gestellt und sich zu ihm bekannt, und sie hatte dafür eine tiefe Demütigung vor der versammelten Mannschaft einstecken müssen. Es war jetzt an ihm, diese unerträgliche Situation für sie zu beenden.
    Er drückte dem überraschten Harry sein Bierglas in die Hand und nahm Noras Arm.
    »Komm«, sagte er, »wir gehen nach Hause!«
    5
    Es war halb elf, als sie daheim ankamen. Sie waren beide auf dem Fest nicht mehr dazu gekommen, etwas zu essen, und im Auto hatte Nora plötzlich gesagt: »Ich lasse mir den Abend nicht komplett

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