Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
verderben! Ich habe Hunger. Lass uns ins Navy Inn gehen.«
Es war das erste Mal, dass sie zusammen abends in einem Restaurant saßen. Ein seltsames Gefühl, wie Ryan fand. Eigenartig intim, obwohl es das Normalste auf der Welt war, dass zwei Menschen zusammen essen gingen, es bedeutete keineswegs, dass sie eine Beziehung hatten. Sie tranken jeder eine Flasche Bier und schaufelten Zwiebelringe, Pommes Frites und gebackene Bohnen in Tomatensoße in sich hinein.
»Ich brauche richtig viele Kalorien«, hatte Nora gesagt. »Das ist immer so, wenn ich wütend bin.«
Es lag, wie Ryan nach und nach klar wurde, an der Situation, in die sie auf jener furchtbaren Party geraten waren. Für ein paar Minuten war es so gewesen: Sie beide gegen den Rest der Welt. Er hatte Nora von einer ihm bis dahin ganz unbekannten Seite erlebt. Er hatte nicht gewusst, dass sie so zornig sein konnte. Und so … aufrecht. Sie hatte wie ein Bodyguard neben ihm gestanden, bleich und bebend und unbeirrbar. Zum ersten Mal hatte er echten Respekt vor ihr empfunden. Und diese Empfindung hielt an. Sie veränderte etwas zwischen ihnen beiden. Worauf das am Ende hinauslief, konnte er noch nicht sagen. Er registrierte nur, dass etwas in Bewegung gekommen war.
Sie sprachen über Vivian.
»Sie hatte zu viel getrunken«, erklärte Nora. »Und sie kann aggressiv und unberechenbar sein, wenn sie getrunken hat. Morgen ist sie dann über sich selbst entsetzt.«
»Glaubst du, eure Freundschaft übersteht diesen Auftritt?«, fragte Ryan.
Nora zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Ich habe schon manches mit ihr erlebt, aber das vorhin war selbst für ihre Verhältnisse äußerst extrem. Sie wird sich wahrscheinlich auf Knien entschuldigen, aber ich kann jetzt noch nicht sagen, was das in mir auslösen wird. Im Moment fühle ich mich erschöpft und leer.« Sie lächelte müde. »Das ist wahrscheinlich normal, wenn man zuvor so wütend war.«
»Wir sollten nicht mehr zusammen zu solchen Veranstaltungen gehen«, meinte Ryan. »Etwas in dieser Art wird immer wieder passieren. Zumal jetzt so viele Leute meine Vergangenheit kennen. Über das Wochenende ist es in deinem ganzen Bekanntenkreis und unter allen Kollegen herum. Es wird immer Kommentare geben, Warnungen, Verständnislosigkeit. Sensationslust.«
»Das macht mir nichts aus«, sagte Nora. » Ich habe kein Problem mit deiner Vergangenheit, und das ist das Einzige, was zählt. Es geht um uns beide, Ryan. Nicht um die Menschen da draußen.«
Er glaubte ihr, dass sie meinte, was sie sagte. Er wusste nur nicht, ob sie überblicken konnte, was es in letzter Konsequenz bedeutete, nicht mehr zu den Menschen da draußen zu gehören. Und in welche Position schob es ihn, wenn er das Einzige war, was ihr blieb? Darüber mochte er lieber nicht nachdenken.
Als sie zu Hause ins Wohnzimmer traten, blinkte der Anrufbeantworter. Drei Anrufe waren eingegangen. Die ersten beiden stammten von Vivian.
Bei ihrer ersten Nachricht war sie hörbar in Tränen aufgelöst und inzwischen deutlich betrunken. Im Hintergrund klangen Stimmengewirr und Musik.
»Es tut mir so leid, Nora, ehrlich, du musst mir glauben!« Sie sprach mit schwerer Zunge und verhaspelte sich immer wieder bei den Wortanfängen. »Bitte, bitte, ruf mich auf meinem Handy an. Ich bin noch auf der Party. Ich habe mein Handy in der Hand, ich höre es, wenn es klingelt. Bitte, melde dich. Ich will dir alles erklären.«
Bei ihrem zweiten Anruf weinte sie nicht mehr, sprach dafür mit grabesschwerer Stimme und so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Immerhin war es nun ruhig um sie herum. »Ich bin jetzt weggegangen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Du hast nicht angerufen, Nora. Bitte, bitte gib mir noch eine Chance. Bitte! Du bist meine beste Freundin. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich weiß selbst nicht, warum ich so gemein zu dir war. Bitte, ruf mich an.« Sie machte eine Pause. »Du kannst die ganze Nacht anrufen«, fügte sie dann hinzu. »Egal wann. Aber melde dich bitte!«
»Ich wusste, dass sie zu sich kommt«, sagte Nora, »und dass sie dann über sich selbst erschrickt. Wollen wir uns ihre dritte Nachricht auch noch antun?«
Ryan stand mitten im Zimmer. »Wie du willst«, sagte er.
Nora drückte erneut auf die Wiedergabetaste.
Schweigen. Dann räusperte sich jemand.
»Das ist nicht Vivian«, sagte Nora überrascht. »Das ist, glaube ich, ein Mann!«
Der Anrufer räusperte sich noch einmal. Er schien unsicher, wie er beginnen
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