Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
gibt es für das alles ja eine harmlose Erklärung.«
Garantiert nicht, dachte Ryan. Er musste an Debbie denken. Immerhin, Debbie lebte. Aber er mochte sich nicht vorstellen, dass seiner Mutter dasselbe widerfuhr wie seiner Freundin, selbst wenn sie am Ende zu Bradley zurückkehrte.
»Das Auto dieser anderen Familie …«, setzte er an.
Bradley wischte sich die Tränen ab. »Ja. Noch während dieser Beamte hier saß, rief Mrs. Barker wieder an. Inzwischen hatten sie einen Mechaniker kommen lassen, und der stellte fest, dass jemand wohl absichtlich den Wagen lahmgelegt hatte. Irgendein Kabel durchtrennt, oder was weiß ich … Auf jeden Fall schloss er wohl aus, dass es sich um eine Verschleißerscheinung handelte oder dass ein Marder sein Unwesen getrieben hat. Diese Auskunft machte dann den Beamten ziemlich stutzig. Denn das würde unter Umständen bedeuten …«
»… Dass jemand dafür gesorgt hat, dass Corinne auf jeden Fall allein an diesem Treffpunkt herumstand«, vollendete Ryan den Satz. Ihm wurde immer mulmiger zumute. Eine gut geplante Aktion. Er war inzwischen fast hundertprozentig sicher, dass sie etwas mit ihm zu tun hatte.
»Was meint die Polizei?«, fragte er.
Bradley hob beide Hände. »Die kommen mir ziemlich ratlos vor. Der Beamte ist dann noch zu der Farm der Barkers gefahren, aber er hat dort nichts Neues erfahren. Mir hat man gesagt, ich solle auf jeden Fall hier am Telefon bleiben. Sie fragten, ob ich einen Psychologen brauche, aber ich will keinen Psychologen. Ich will Corinne. Ich will einfach, dass sie wiederkommt!« Er sah Ryan flehend an. »Bitte, Ryan! Du musst mir helfen! Du musst ihr helfen! Sie ist deine Mutter! Du kennst sie eigentlich besser als wir alle. Kannst du dir nicht vorstellen, was geschehen ist?«
Ryan stand erneut auf. Ihm war leicht übel, und er fror plötzlich, nachdem er zuvor vor Aufregung geschwitzt hatte.
»Im Moment fällt mir absolut nichts ein«, sagte er. Es erstaunte ihn, sich selbst mit so klarer und fester Stimme lügen zu hören.
Du bist noch genau derselbe Feigling wie damals, dachte er, das beste Beispiel dafür, dass der Knast keine besseren Menschen aus seinen Insassen macht. Er spuckt sie so schlecht und klein und mies wieder aus, wie er sie aufgenommen hat.
Nora legte ihre Hand auf Bradleys Arm. »Wir helfen auf jeden Fall«, sagte sie. »Ryan, wir könnten zu der Stelle fahren, von der deine Mutter gestern verschwunden ist. Wir sollten uns das selbst noch einmal anschauen.«
Ryan war klar, dass dies purer Aktionismus war. Bradley war dort gewesen. Vor allem aber auch die Polizei. Gäbe es dort etwas zu entdecken außer den ominösen Reifenspuren, dann hätten sie es gefunden. Nora wusste dies bestimmt auch. Vielleicht wollte sie dem verstörten, verzweifelten Bradley das Gefühl geben, dass irgendetwas geschah, dass man nicht nur herumsaß. Vielleicht wollte sie auch mit Ryan allein sein, die Dinge mit ihm unter vier Augen bereden. Er hoffte, dass ihr nicht auch bereits etwas dämmerte: Sie wusste, dass man seine einstige Lebensgefährtin vergewaltigt hatte. Nun war seine Mutter verschwunden. Am Ende sah sie einen Zusammenhang und wollte mit ihm darüber sprechen. Nora war nicht dumm. Auch nicht naiv. Seit dem gestrigen Abend ging Ryan mehr und mehr auf, dass er sie bislang erheblich unterschätzt hatte.
Dennoch nickte er. »Okay. Wenn es hell wird, fahren wir.«
6
Sie tauchte aus einem wirren, angsterregenden Traum auf, in dem sie nackt mitten im Wald lag, hilflos wie ein gestürzter Käfer auf dem Rücken, frierend, hungrig und vor allem durstig, und nachdem sie eine ganze Weile darum gekämpft hatte, den Traum loszuwerden und endlich in der Wirklichkeit anzukommen, begriff sie, dass sie dort längst war: in der Wirklichkeit. Und dass diese furchtbarer war, als jeder Traum es sein konnte.
Sie fühlte stechende Schmerzen im Kopf und hatte einen so ausgetrockneten Mund, als habe stundenlang Watte oder Wolle daringesteckt, was, soweit sie wusste, nicht der Fall gewesen war. Aber sie hatte etwas zu trinken bekommen; sie entsann sich, dass sie nicht hatte trinken wollen, trotz ihres Durstes, weil in dem Wasser irgendetwas schäumte, das so aussah, als werde etwas darin aufgelöst, ein Medikament, eine Droge, etwas Unbekanntes in jedem Fall.
»Ich trinke das nicht«, hatte sie gesagt, und einer der Männer – ja, zwei Männer waren es gewesen, auch dieses Wissen tauchte jetzt aus den Tiefen ihrer schrecklich langsam und zäh arbeitenden
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