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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Erinnerung auf – hatte erwidert: »Das ist Aspirin. Trink!«
    Sie hatte ihm nicht geglaubt, denn weshalb sollten zwei Männer sie kidnappen und ihr dann fürsorglich ein Aspirin verabreichen? Sicher handelte es sich um irgendeine dieser gefährlichen Substanzen, mit denen man Menschen willenlos machen konnte. Sie hatte sich gewehrt, aber der Mann hatte sie festgehalten und ihr das Wasser eingeflößt, und obwohl es ihr gelungen war, einiges davon sofort auszuspucken, hatte sie genug abbekommen, um sich von da an wie durch einen seltsamen dunklen Nebel zu bewegen, die Dinge um sie herum verschwommen und auf eine eigenartige Weise irreal wahrzunehmen. Zeitweise bekam sie auch gar nichts mit, war völlig benommen oder vielleicht sogar bewusstlos, und hatte an ganze Zeitabschnitte keine Erinnerung mehr.
    Sie richtete sich auf und blickte an sich hinunter. Sie war nicht nackt, wie sie gefürchtet hatte, sondern noch vollständig angezogen, aber sie war so restlos vom Regen durchweicht, dass sich ihre Kleidung angefühlt hatte wie nasses Gras, das auf ihrer bloßen Haut klebte. Sie stellte jetzt fest, dass nicht Hunger und Durst die schlimmsten Gefühle waren in ihrer augenblicklichen Lage, sondern dass sie die Kälte am allermeisten quälte. Sie hatte vorher nicht gewusst, dass Frieren so wehtun konnte. Bis in alle Knochen hinein, bis in ihr tiefstes Inneres gab es nichts mehr, das warm gewesen wäre. Sie hätte heulen mögen, so sehr fror sie. Und sie ahnte, dass es noch mehr Gründe gab, die es gerechtfertigt hätten, in Tränen auszubrechen.
    Sie hob den Kopf und schaute sich um.
    Noch immer arbeitete ihr Gehirn schwerfällig und langsam, und sie war nicht sicher, ob das, was sie sah, Realität war: Wald. Bäume. Büsche. Farne. Moos. Nasses, altes Herbstlaub auf der Erde.
    Eine Erinnerung gewann mühsam, nur ganz allmählich etwas an Klarheit: das Auto, das einen Waldweg entlangfuhr. Bäume, die das wenige Licht des verregneten Tages gründlich abschirmten, sodass alles düster war, dämmrig, und nass. Sie hing in ihrem Sitz, schaffte es kaum, hinauszusehen, weil ihr Kopf immer wieder zur Seite kippte. Sie schaffte es auch nicht, einen einzigen Gedanken bis zu Ende zu denken. Sie fing immer wieder von vorn an, sich selbst Fragen zu stellen oder das, was mit ihr geschah, zu analysieren, aber bevor sie die Fragmente, die sie zu fassen bekam, wirklich zusammensetzen und in ein vernünftiges Ganzes bringen konnte, verlor sie schon wieder mindestens die Hälfte davon. Sie begann von vorn und scheiterte erneut. Sie entsann sich, dass sie einen Moment lang gedacht hatte, sie werde sterben an der Erschöpfung, in die sie ihre Anstrengungen trieben.
    Dann hatte das Auto angehalten, mitten im Wald, und trotz der lähmenden Betäubung, die über ihr lag, war sie von jäher Angst gepackt worden. Wieso hielten die? Wieso hielten sie hier ?
    Eine Autotür öffnete sich. Der Fahrer stieg aus. Öffnete die Tür neben Corinnes Sitz. Sie wusste, dass sie sich für eine Sekunde etwas wacher gefühlt hatte, als die kühle, frische Regenluft in das Innere des Autos wehte. Hände packten sie, zogen sie aus dem Wagen. Sie hatte versucht, irgendwie auf die Füße zu kommen, aber beide Beine waren unter ihr weggeknickt. Sie sank zu Boden. Er war weich. Weich und nass, und er roch nach Laub, Erde und Nässe.
    Dann war nichts mehr gewesen.
    Wahrscheinlich hatte sie die Besinnung verloren.
    Wie lange hatte sie hier gelegen?
    Sie bog den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Die Baumkronen über ihr trugen das helle, frische Grün des Frühlings. Dahinter glitten graue Wolken langsam vorbei. Kein einziges kleines Stück Himmelsblau war zu sehen. Aber es regnete nicht mehr. Gelegentlich schien es zu nieseln, aber das kam aus den Blättern, die der leichte Wind bewegte. Der Wald troff von Nässe.
    Ihr kam der Gedanke, auf ihre Armbanduhr zu sehen. Halb zehn. Sie überlegte. Halb zehn am Abend – dann wäre es dunkler. Also halb zehn am Vormittag. Aber welcher Tag?
    Sie hatte die unbestimmte Vorstellung, ein- oder zweimal die Augen geöffnet zu haben und von tiefer Dunkelheit umgeben gewesen zu sein, was möglicherweise bedeutete, dass zwischen ihrer Entführung und dem Jetzt eine Nacht lag, aber sie hätte es nicht beschwören können. Dafür hatte sie das Medikament, was immer es gewesen war, viel zu sehr in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt.
    Jedoch ließ die Wirkung nun praktisch mit jeder Minute deutlich nach. Es blieben nur die

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