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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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bescherte.«
    »Ganja? Was ist das?«
    »Marihuana. Ganja ist das indische Wort für Hanf.«
    »Aha. Und davon bekommt man Hunger?«
    Umakant sah Anna an, als hätte er plötzlich ein Marsmännchen vor sich. »Kaum zu glauben«, sagte er. »Du hast tatsächlich noch nie etwas geraucht?«
    Anna schüttelte den Kopf. Noch eine Erfahrung, die sie verpasst hatte.
    »Na ja, dann kannst du es jetzt auch lassen«, sagte er und stieß die Tür auf. Seine Kinder drängelten sich aufgeregt plappernd an ihm vorbei und steuerten sofort das Fensterregal mit den Torten an. Anna folgte ihnen in gemessenem Tempo, aber nicht minder aufgeregt. Bestimmt hatten auch ihre Mutter und der Franzose hier gesessen und gekifft und Fruchtsäfte geschlürft.
    Das düstere Café bot Platz für ein halbes Dutzend Tische, von denen drei von westlich gekleideten jungen Nepalesen, wahrscheinlich Studenten, besetzt waren. Über jedem Tisch hingen bunte Papierlaternen mit hinduistischen und buddhistischen Motiven, und an den Wänden fand sich ein Sammelsurium von buddhistischen Thankas, eingestaubten Holzmasken und gerahmten Zeichnungen mit psychedelischen Anklängen. Ein Bob-Marley-Poster vervollständigte den Hippie-Charme des Cafés. Bis in Kopfhöhe hatten Hunderte, wenn nicht Tausende von Gästen die Wände mit ihren Namen bekritzelt. Annas Herz machte einen Sprung: Ob sich auch ihre Eltern hier verewigt hatten? Sie musste später unbedingt die Wände absuchen! Im hintersten Winkel, neben einer in die oberen Stockwerke führenden Treppe, entdeckte sie noch einen weiteren Gast, einen alten Mann mit langem Bart, aber bevor Anna einen genaueren Blick auf ihn werfen konnte, gesellte sich Ram, der Besitzer des Snow Man, zu ihnen und stellte sich vor. Er war ein für nepalesische Maßstäbe großer und breitschultriger Mann mit einem ergrauten, beneidenswert vollen Haarschopf, dessen Pony ihm bis fast in die Augen hing. Eine silberne Metallbrille zierte sein offenes Gesicht, und Anna fiel auf, dass sie bisher so gut wie gar keine brillentragenden Inder oder Nepalesen gesehen hatte. Hatten die Menschen hier alle Adleraugen, oder konnten sie sich keine Brillen leisten? Sie würde Uma später danach fragen. Jetzt galt es, Dringenderes zu organisieren: die Auswahl der Torte. Kushum las Siddhartha in voller Lautstärke die kleinen Schilder neben den Torten vor, und es deutete sich an, dass die beiden zu keiner Entscheidung gelangen würden. Ihr Vater und Ram intervenierten, und es entstand ein lustiger Trubel am Kuchenregal, der die neugierigen Blicke der anderen Gäste auf sich zog.
    Sobald sich alle etwas ausgesucht hatten und die Teller vor ihnen standen, kehrte vorübergehend Ruhe ein. Anna beobachtete die Kinder. Selbstvergessen, mit feierlichem Ernst löffelten sie ihre Schokoladentorte. Als würden sie zum ersten Mal so etwas essen, dachte Anna amüsiert, doch dann blieb ihr das Lachen im Hals stecken: Wenn es vielleicht auch nicht der erste Kuchen im Leben der Kinder war, dürfte er trotzdem ein äußerst seltener Genuss sein. Umakants Familie machte keinen wohlhabenden Eindruck, und Anna hatte das Preisgefüge in Kathmandu mittlerweile so weit durchschaut, dass sie den Preis des Kuchens ins Verhältnis zu anderen Lebensmitteln setzen konnte. Jedes einzelne Tortenstück kostete eine Summe, mit der Uma seine Lieben wahrscheinlich einen ganzen Tag lang ernähren konnte. Sie schaute unauffällig zu den Nachbartischen. Die Studenten tranken lediglich Tee, nur an einem der Tische teilten sich drei Mädchen ein Stück Torte.
    Ram brachte Tee für die Kinder und Milchkaffee für die Erwachsenen und setzte sich zu ihnen. Nach kurzem Hin und Her stellte sich heraus, dass Rams Englisch mindestens ebenso eingerostet war wie Annas, und sie einigten sich darauf, dass Uma vom Nepalesischen ins Deutsche übersetzte und wieder zurück.
    Zu Annas Enttäuschung konnte sich Ram weder an ihre Mutter noch an Sylvain erinnern. Anna zeigte ihm ein Foto von Bärbel, aber es half auch nicht weiter. Selbst Anna musste zugeben, dass sie keine Verbindung von dem Hippiemädchen aus dem Hare-Rama-Hare-Krishna-Film zu der deutlich gesetzteren, melancholisch auf die Nordsee blickenden deutschen Hausfrau hätte ziehen können.
    Dafür konnte Ram umso mehr über die verrückte Hippie-Zeit berichten. Er war 1969 Mitte zwanzig gewesen, und sein Café eines der beliebtesten der Stadt. Damals stand an der Stelle des heutigen Gebäudes noch ein sehr altes Haus, und der Snow Man okkupierte

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