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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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aufbewahrte. Sofort knipste sie die Taschenlampe wieder ein und suchte das Zelt ab, bis sie den Rucksack unter dem Kopfende seines Feldbetts fand.
    Sie zögerte kurz, bevor sie den Reißverschluss der Klappe öffnete. Es war eigentlich nicht ihre Art, in den Sachen anderer Leute zu wühlen, aber dann beruhigte sie sich. Sie wühlte nicht, sondern wollte lediglich eine Tablette haben. Achim würde es überhaupt nicht bemerken, wenn er zurückkam.
    Anna riss den Verschluss mit einem Ruck auf und leuchtete in das Fach.
    Das Erste, was sie sah, war ihr Anhänger.
    Der silberne Anhänger mit den eingearbeiteten Türkisen und Korallen in Form des Buchstabens ›S‹. Die Initiale des Namens ihres Vaters.
    Der silberne Anhänger, den der seltsame Heilige ihr vor einiger Zeit gestohlen hatte. Jener seltsame Heilige, der nicht zu ihrer Verabredung erschienen war und an dessen Stelle sich Achim in ihr Leben gedrängt hatte. Anna presste die Faust in ihren Mund, um nicht laut zu schreien. Mit voller Wucht traf sie die Erkenntnis, dass sie von vorn bis hinten belogen worden war.
    Dass sie in höchster Gefahr schwebte, wenn sie auch nicht ahnte, warum.
    Und plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht. Mit erschreckender Klarheit rekapitulierte sie das Gespräch über Achims Telefonate mit Rebecca und Ingrid. Er hatte nichts von Kim gewusst, und, als sie ihn nach Eddo fragte, behauptet, ihm ginge es prima. Was für ein Unsinn! Eddo trauerte seit anderthalb Jahren und würde kaum in drei Wochen ins Leben zurückgefunden haben. Sie hatte Achim geglaubt, weil sie ihm glauben wollte, dabei hatte er nie mit den Frauen gesprochen. Anna stöhnte. Sie war ein williges Opfer gewesen: Selbst ihre Briefe an Ingrid, Kim, Rebecca und Eddo hatte sie ihm ausgehändigt, als er ihr anbot, sie zur Post zu bringen, wo sie mit Sicherheit nie gelandet waren. Niemand wusste, wo sie sich befand, geschweige denn, mit wem.
    Und jetzt? Irgendeine Teufelei war im Gange. Hatte Achim ihr in Jomsom, als sie die Ziegen bewunderte, nicht sogar einen Hinweis gegeben? Sie war das unbedarfte Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank. Aber warum?, schrie es in ihr. Was hast du vor? Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste handeln, und zwar schnell. Noch einmal leuchtete sie in das Rucksackfach, fand die Tabletten und stopfte sie gemeinsam mit dem Anhänger in ihre Hosentasche. In blinder Hast schlüpfte sie in ihre warme Kleidung, dann schnappte sie sich den Schlafsack, eine angebrochene Kekspackung und eine Wasserflasche und schlich aus dem Zelt. Zwei Minuten später ließ sie den verwaisten Lagerplatz hinter sich und stürmte den wenige Stunden zuvor mühsam erklommenen Pfad hinab.
    Sie war schon mindestens eine Stunde vorangestolpert, als ihr aufging, dass sie den Weg verlassen musste – wenn sie sich überhaupt noch darauf befand, denn bei der herrschenden Dunkelheit war es gut möglich, dass sie ihn längst verfehlt hatte. Achim und seine Spießgesellen würden sie als Erstes hier suchen, und sie machte sich keine Illusionen, dass sie ihnen entkommen konnte – zu geschwächt war sie, zu wenig vertraut mit den Bergen. Sie atmete kurz durch und erkletterte dann beherzt einen mäßig steilen Abhang.
    Sie hatte sich keinen Moment zu früh entschieden. Gerade als sie die obere Kante des Abhangs erreichte, vernahm sie unter sich Schritte und unterdrückte Stimmen. Sie presste sich flach auf die Erde und traute sich nicht, über den Rand zu spähen. Bewegungslos verharrte sie auf dem kalten Boden, bis die Geräusche verklangen, dann rappelte sie sich hoch, spülte endlich eine Tablette hinunter und torkelte in die Nacht davon. Sie fühlte sich wie eine Betrunkene und merkte, dass sie nicht mehr weit kommen würde.

[home]
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    E s kostete Achim enorme Überwindung, den Mann nicht niederzuschlagen. Anstatt wie aufgetragen während seiner Abwesenheit Anna und die Umgebung zu überwachen, hatte der Idiot Annas Flucht verschlafen. Außer sich vor Wut öffnete und schloss Achim seine Fäuste und verfluchte sich im Stillen für die unverzeihliche Dummheit, seinen Rucksack unbeaufsichtigt in ihrer Reichweite gelassen zu haben. Anna war nicht dumm, und nach dem Fund der Kette dürften ihr einige Lichter aufgegangen sein. Ruhig, beschwor er sich, es nutzt überhaupt nichts, jetzt die Nerven zu verlieren. Versuche, dich in sie hineinzuversetzen. Wann ist sie geflüchtet? Wohin hat sie sich gewandt?
    Gereizt ging er zwischen den drei Zelten auf und ab, verfolgt von den

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