Im Tal des Schneeleoparden
bewusst wurde, dass sie nie Träume gehegt, dass es kein großes Ziel gab, auf das sie hingearbeitet hatte. Ihr Leben war einfach dahingeplätschert, und nun lohnte es nicht mehr, diese drei Jahrzehnte währende Ereignislosigkeit zu bedauern.
Doch dann dachte sie an Kim. Unvermittelt kehrte ihr Lebenswille zurück. Sie zwang sich aus ihrer zusammengekauerten Haltung zum Stehen und sah sich um. Noch war nicht alles verloren. Sie hatte Wasser und einen Schlafsack. Sie musste eine geschützte Stelle finden, um die Nacht zu überstehen.
Anna brauchte nicht lange zu suchen. In der Nähe entdeckte sie eine steile Felswand mit vertikal verlaufenden Rippen, zwischen denen sich die Nachtschwärze konzentrierte. Sie stolperte über die Geröllhalde am Fuß der Steilwand und spähte in die Einbuchtungen, bis sie eine geeignete fand, gerade groß genug, um sich darin zusammenzurollen. Kurz darauf hatte sie sich in ihren Schlafsack gewickelt und blickte aus ihrem Versteck über das Land. Tot war es, leer, die Berge wie Scherenschnitte, Schwarz gegen Dunkelgrau, und doch konnte sie erstaunlich viele Details im fahlen Sternenlicht ausmachen: die scharfkantigen Steinbrocken zu ihren Füßen. Die löchrige Struktur des Abhangs auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Die Silhouetten weit entfernter Bergkämme. Sie war allein. Das einzige Lebewesen in einer erstarrten Welt.
Der Pangje wälzte sich unruhig auf seinem Lager, bis er es nicht mehr aushielt und die Decke beiseitewarf. Ohne eine Kerze anzuzünden, schlich er durch sein dunkles Haus, legte sich eine Wolldecke um die Schultern und öffnete die Außentür. Ein Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen. Er trat nach draußen und schloss schnell die Tür hinter sich, um die kostbare Wärme im Haus zu halten. Sein Atem kondensierte augenblicklich zu kleinen Wolken und sank zu Boden. Der Winter war gekommen, doch der Pangje bemerkte die Kälte kaum. Tief in Gedanken versunken, trat er an den Rand der Plattform vor seinem Haus und blickte über das Dorf zu seinen Füßen. Zwei Dutzend Häuser, eingebettet in ein verschwiegenes Tal, dessen Zugang nur die Eingeweihten fanden, schmiegten sich eng aneinander und trotzten der Kälte und dem Wind, der zuverlässig am Morgen wieder aufleben würde. Der Pangje liebte dieses Dorf. Die Welt hatte ihn nicht mehr gewollt, und er hatte dankbar das Angebot der Dorfbewohner angenommen, einer der ihren zu werden. Er teilte ihr hartes Leben, aber auch die Freuden, die es bot. Er hatte seine Wahl nie bereut.
Doch heute Nacht lag Gewalt in der Luft, durchdrang die Kälte und ließ ihn schaudern. Etwas Bedrohliches näherte sich seinem Refugium, unaufhaltsam. Er war auf der Hut.
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55
A nna fuhr aus dem Schlaf hoch und rang nach Luft, wieder und wieder. Ich ersticke!, gellte es in ihr, und dann, endlich, ließ der fürchterliche Druck auf ihrem Brustkorb ein wenig nach. Gierig und schnell atmete sie die eiskalte Nachtluft ein, bis ein fürchterlicher Hustenanfall sie packte. Sie fühlte sich mehr tot als lebendig, als der Anfall abebbte. Ihr Kopf drohte zu zerspringen.
Ein leises Scharren drang in ihr Versteck. Anna bekam eine Gänsehaut. Sie war nicht ohne Grund erwacht. Jemand schlich dort draußen herum.
Bewegungslos verharrte sie in ihrer Nische und starrte auf das weite Geröllfeld vor ihr. Sollte sich ein Angreifer nähern, konnte sie ihn schon von weitem erkennen. Und dann?, dachte sie resigniert. Würde sie sich dem Mann entgegenstellen, ihn umbringen und die Flucht ergreifen? Wohl kaum. Sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt aufstehen konnte.
Das leise Klackern von abrutschendem Schotter ließ sie zusammenzucken. Das Geräusch war von links gekommen. Vorsichtig beugte sie sich nach vorn, doch die Bergrippe, die ihr zuvor Schutz geboten hatte, verhinderte nun einen freien Blick. Wieder ein Poltern, dichter nun. Anna zog sich zurück und presste sich gegen die Felswand.
Etwas bewegte sich in der toten Welt. Rasend schnell näherte sich ein großer Schatten ihrem Versteck, lautlos und geschmeidig.
Anna fügte sich in ihr Schicksal. Ergeben schloss sie die Augen.
Tara schlug die Augen auf. Ihr Schädel brummte, doch sie brauchte nur Sekunden, um ihre Lage zu erfassen.
Sie lag, an Händen und Füßen gefesselt, in einem Zelt auf einem Feldbett. Zusätzlich hatte ihr Entführer eine Decke so um ihren Körper gewickelt, dass sie sich kaum rühren konnte. Sie versuchte es trotzdem, wand sich, zappelte, bis sie die
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