Im Tal des Schneeleoparden
Gesicht und lachte. »Ich sehe schon, mit tollen Felsformationen kann ich dich nicht mehr locken. Wir kehren um.«
»Nein. So habe ich es nicht gemeint. Drei Stunden schaffe ich auch noch«, widersprach Anna. »Allerdings nicht heute.«
»Das hatte ich ohnehin nicht vor. Der Nachmittag ist schon weit fortgeschritten, und die Männer haben Anweisung, nach einem geeigneten Zeltplatz Ausschau zu halten. Morgen gehen wir zurück.«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein, nein, nein!« Anna musste lachen. Die Situation war absurd. Vor wenigen Minuten war sie davon überzeugt gewesen, aufgeben zu wollen, und nun das. Unbewusst hatte sie aus Achim den Widerspruch herausgekitzelt, den sie benötigte, um weiterzulaufen, um die eigenen Grenzen zu überwinden oder es zumindest zu versuchen. Genau aus diesem Grund hatte Gott schließlich Berge gebaut, oder? Damit sich Menschen daran versuchten.
Achim stimmte in ihr Lachen ein. »Ich glaube, du hast gerade erkannt, was Bergsteiger antreibt«, sagte er und traf damit den Nagel auf den Kopf. »Komm, wir suchen das Lager. Du schläfst dich aus und entscheidest morgen.«
Anna ergriff seine ausgestreckte Hand. »Abgemacht«, sagte sie und ließ sich auf die Beine ziehen.
Mit neuer Energie folgte sie Achim die letzten drei- oder vierhundert Meter bergan, bis sie um einen Felsvorsprung traten, hinter dem die Männer tatsächlich schon das Lager errichtet hatten. Klappstühle und ein Tisch standen bereit, die Abendmahlzeit kochte auf dem transportablen Gaskocher und verbreitete den angenehmen Duft von Tomatensoße, und sogar die Träger lächelten ihnen entgegen. Anna wickelte sich dankbar in eine Decke, die der Kräftige ihr reichte, und setzte sich. Bisher hatte sie viel zu wenig auf die Landschaft um sie herum geachtet, doch nun fand sie endlich Muße, und das Herz ging ihr auf. Die untergehende Sonne tauchte die öde Wüstenei Mustangs in unwirkliches orangefarbenes Licht, während nicht allzu weit entfernt das Annapurna-Massiv aufragte. Die unwirkliche Schönheit der Berge nahm sie gefangen, und sie bezweifelte nicht, wie ihre Entscheidung am nächsten Morgen ausfallen würde.
Anna erwachte mit einem Ruck. Sie war ziemlich benommen und wusste nicht, was sie geweckt hatte, im ersten Moment nicht einmal, wo sie war. Wieder plagten sie Kopfschmerzen, stark genug, um ihr ein leises Stöhnen zu entlocken. Um ihren rasenden Puls zu beruhigen, atmete sie tief ein und aus und lauschte in die Dunkelheit. Es war unheimlich still. Nicht einmal Achim, mit dem sie das Zelt teilte, ließ auch nur das geringste Schnarchen hören.
Nicht das geringste Schnarchen. Oder Atmen. Nichts.
Seltsam. Beklommen suchte Anna in den Tiefen ihres Schlafsacks nach ihrer Taschenlampe, fand sie und leuchtete zur zweiten Schlafstelle.
Sie war leer.
Anna führte den Strahl der Lampe zum Handgelenk. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht. Sicherlich war Achim hinausgegangen, um sich zu erleichtern, versuchte sich Anna zu beruhigen, doch aus einem unerklärlichen Grund gelang es ihr nicht. Die Stille im Lager war ihr plötzlich unerträglich – sollten nicht sechs erwachsene Männer selbst im Schlaf mehr Lärm verursachen? Sollten sie nicht schnarchen, sich räuspern, ihretwegen auch furzen? Aber da war nichts. Panik stieg in ihr auf. Die Männer hatten sie verlassen, alleingelassen in der Einsamkeit! Im nächsten Moment riss sie sich zusammen. Sie hatte wirklich nicht alle Tassen im Schrank. Warum, um Himmels willen, sollten die Männer sie hier aussetzen? Ganz abgesehen davon, dass es keinen Grund dafür gab, wäre auch die Mühe, sie ausgerechnet hier loszuwerden, verdammt groß gewesen. Dann schoss ihr ein neuer Gedanke durch Kopf: Was, wenn die Träger Achim beseitigen wollten? Er hatte sich ihnen gegenüber die ganzen Tage so herrisch aufgeführt, dass es Anna manchmal sehr unangenehm gewesen war. Hatten sie sich gegen ihn, und damit auch gegen sie verschworen? Sie dachte an die überraschende Freundlichkeit der Männer am Abend. Ein Ablenkungsmanöver? Anna saß wie gelähmt auf ihrem Feldbett und lauschte nach draußen, doch die Stille blieb.
Nach einer gerade fünfzehn Minuten währenden Ewigkeit schälte sie sich aus dem Schlafsack und schlich gebückt zum Zelteingang. Das Lager lag im Dunkeln, niemand war zu sehen. Fieberhaft überlegte sie, was nun zu tun sei, aber ihre Kopfschmerzen hinderten sie am Denken. Kopfschmerzen. Ihr fielen die Tabletten ein, die Achim im oberen Fach seines kleinen Rucksacks
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