Im Tal des Schneeleoparden
Blödsinn«, schimpfte der eine. »Das Mädchen finden wir in dieser Dunkelheit nie. Wahrscheinlich hat sie sich ohnehin schon den Hals gebrochen. Wir können genauso gut am Morgen weitersuchen. Lass uns zum Lager gehen.«
Kim schluckte. Welches Mädchen meinten sie? Tara? Anna? Wer war geflüchtet?
Der zweite Mann zögerte. »Ich weiß nicht«, sagte er dann. »Wenn diese Anna die ganze Nacht läuft, erreicht sie Tetang vor uns. Das darf auf keinen Fall geschehen.«
»Die und die ganze Nacht laufen? Du spinnst doch. Die war doch schon am ersten Tag völlig erschöpft. Es grenzt an ein Wunder, dass sie es überhaupt auf eigenen Füßen bis hier geschafft hat. Hast du gesehen, wie sie taumelt? Das ist die Höhenkrankheit, mein Bester. Wenn der Boss sie nicht mit Diamox gefüttert hätte, wäre sie wahrscheinlich schon umgekippt, glaube mir!«
Nein! Kim wollte losstürmen, den Mann schütteln, aus ihm herausprügeln, wo Anna war. Khagendra, der seine Reaktion vorausgesehen hatte, drückte ihn zu Boden und brachte seinen Mund ganz nahe an Kims Ohr. »Bleib liegen«, zischte er. »Je mehr wir erfahren, desto besser können wir den Frauen helfen.«
Nie war Kim etwas schwerer gefallen, als untätig in der Rinne zu liegen, aber er fügte sich. Natürlich hatte der Herr der Vögel recht, wie so oft.
»… und die anderen Leute?«, fragte der Zögerliche gerade.
Der Erste lachte trocken. »Welche anderen? Siehst du irgendeinen? Hörst du etwas? Ich nicht. Das zweite Mädchen war allein unterwegs.«
»Und wenn nicht?« Der Zögerliche knipste die Taschenlampe an und leuchtete planlos hierhin und dorthin. Die Rinne beachtete er nicht.
»Dann tun wir trotzdem gut daran, zu den anderen aufzuschließen. Wenn sich hier noch mehr Menschen herumtreiben, dann möchte ich nicht über sie stolpern. Los, wir kehren um. Vielleicht ist sie ja schon aufgewacht und hat dem Boss verraten, wo sich ihre Begleiter versteckt halten.« Die Stimme entfernte sich. »Wenn sie denn welche hat«, hörte Kim ihn noch hinzufügen.
Er wartete, bis die Männer wieder hinter dem Felsvorsprung verschwanden, sprang dann auf und half dem Sadhu aus der Rinne. »Anna ist geflüchtet«, flüsterte er atemlos. »Wir müssen sie suchen! Hast du gehört? Sie hat die Höhenkrankheit. Wenn wir sie nicht schnell finden und ins Tal bringen, bekommt sie Wasser in die Lunge. Sie wird sterben!«
Khagendra wiegte den Kopf. »Noch besteht Hoffnung. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Achim ihr Diamox gegeben. Soweit ich weiß, kann es das Schlimmste ein wenig hinauszögern. Du wirst sie allein suchen, aber sei äußerst vorsichtig. Das Gelände ist schwierig, trotzdem darfst du die Taschenlampe auf keinen Fall benutzen. Wer weiß, wie viele von Achims Männern noch hier herumschleichen. Versuche zu denken wie Anna. Sie weiß, dass jemand hinter ihr her ist, also wird sie den Weg verlassen haben. Da sie keinerlei Bergerfahrung hat, wird sie daraufhin immer die leichtesten Abschnitte gesucht haben. Lass dich von deinem Instinkt leiten.« Er drückte Kims Schulter. »Viel Glück«, sagte er und wandte sich ab, um Achims Männern zu folgen. Kim hielt ihn zurück.
»Du kannst Tara unmöglich allein befreien.«
»Nein, ohne Unterstützung können wir für Tara nichts tun.«
»Dieses Monster wird sie umbringen!«
Khagendra strich ihm über die Wange. »Tara kennt Achim, und sie ist schlau. Sie wird Mittel und Wege finden, am Leben zu bleiben, bis ich Hilfe geholt habe. Freunde sind näher, als du denkst«, sagte der Sadhu. »Und nun lass mich gehen.«
Anna sank wimmernd auf die Knie. Seit Stunden stolperte sie durch die eiskalte Dunkelheit, und nun ging es nicht mehr weiter. Keinen Schritt. Sie war zu Tode erschöpft.
Zu Tode.
Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie würde sterben. Sie würde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Und ihre Leiche würde irgendwo in der unheimlichen Einöde des Gebirges verrotten. Wie die ihres Vaters.
Heftiges Husten schüttelte ihren Körper, und sie krümmte sich zusammen. Ihr Puls raste, und das Atmen fiel ihr von Stunde zu Stunde schwerer, hinzu kamen die unsäglichen Kopfschmerzen. Die Tabletten wirkten nicht mehr. Alles deutete darauf hin, dass sich ihr Schicksal hier oben erfüllen würde, und vielleicht war es gut so. In Nepal war sie gezeugt worden, in Nepal hatte ihr Vater sein Leben und ihre Mutter ihr Glück verloren. Sie gehörte hierher. Was hielt sie denn auf dieser Welt? Anna weinte noch mehr, als ihr
Weitere Kostenlose Bücher