Im Tal des Schneeleoparden
Arme unter der Decke hervorziehen konnte. Wütend biss sie in das um ihre Handgelenke geknotete Tuch. Sie zerrte noch immer wie eine Rasende an dem Tuch, als der Bhoot ins Zelt trat. Er entzündete eine Kerze und befestigte sie mit ein paar Wachstropfen auf einer Konservendose, dann setzte er sich auf das zweite Feldbett und zog Tara die halb über die Augen gerutschte Mütze vom Kopf.
»Oho«, sagte er, als er das Funkeln in ihren Augen bemerkte. »Ich habe mir eine Leopardin ins Zelt geholt.«
Tara spuckte in seine Richtung, traf aber zu ihrem Bedauern nicht.
»Du verfolgst mich also.«
Tara blieb stumm.
»Gut, ich werte dein Schweigen als Zustimmung. Dann verrate mir doch bitte, warum? Willst du mich töten?«
Danke, dachte Tara. Warum bin ich darauf eigentlich nicht schon vorher gekommen? Sie presste die Lippen aufeinander. Die Ohrfeige traf sie völlig überraschend. Tara stöhnte auf und hielt sich die Hände vors Gesicht, um einen möglichen zweiten Schlag abzuwehren.
»Du wirst ja wohl kaum allein nachts durch die Berge spazieren. Wer ist bei dir? Dein Vater etwa? Will er Rache für dein hübsches Schwesterchen? Tja, das fällt ihm ziemlich spät ein. Sie gehört jetzt mir.«
»Sapana gehört niemandem«, platzte es aus Tara heraus.
»Du kannst also sprechen«, stellte Achim sachlich fest. »Fein, dann sind wir einen Schritt weiter. Also, wo ist dein Vater?«
»In Raato Danda.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Glaub doch, was du willst.«
»Ich kann warten.«
Ich auch, dachte Tara. Je länger wir warten, desto größer ist meine Chance, hier heil herauszukommen. Sie presste die Lippen zusammen. Achim würde lernen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ, doch je länger das Schweigen andauerte, desto unsicherer wurde sie. Bisher hatte die Angst das Zelt nur umschlichen, aber nun hatte sie einen Weg ins Innere gefunden, kroch heran und wartete auf eine Gelegenheit, Tara an der Kehle zu packen.
Achim rührte sich nicht.
»Wo ist Anna?«, fragte sie unvermittelt.
»Anna?«, fragte er alarmiert zurück. Er sprang auf, stemmte seine Fäuste rechts und links neben ihren Kopf und brachte sein Gesicht so nahe an das ihre, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Ohne zu zwinkern, starrte sie in seine blauen Augen. Er war aufgebracht, aber Tara konnte auch einen Funken Angst entdecken. Umso besser. Sie würde nicht klein beigeben. Nie mehr.
»Woher kennst du Anna?«
»Ich kenne sie. Das muss dir reichen.«
Er packte sie an den Schultern und riss sie hoch. Tara schrie auf. War sie zu weit gegangen?
»Was weißt du?«, zischte er.
Sie biss die Zähne aufeinander. Für endlose Sekunden fochten sie einen stummen Kampf, dann verzog sich sein Mund zu einem so widerwärtigen Grinsen, dass Tara schauderte. Offensichtlich war er sehr zufrieden mit sich.
»Schweig oder rede, es ist im Grunde egal. Du wirst Annas Platz einnehmen.«
»Was hast du vor?«
»Nun, der Pangje hat mir lange genug ins Handwerk gepfuscht, aber morgen kommt ein denkwürdiger Tag für ihn. Eigentlich wollte ich sein Leben gegen Annas eintauschen, aber da das verschreckte Mäuschen es vorgezogen hat, ganz allein in den Tod zu rennen, wirst du mein Pfand. Ein Mädchen ist so gut wie das andere.«
»Du bist kein Dämon. Du bist schlimmer«, sagte Tara. »Aber du wirst damit nicht durchkommen. Der Pangje wird sich dir niemals wehrlos ausliefern.«
»Du meinst also, er opfert sich nicht für dich?«, fragte Achim. »Dann wäre er ein noch furchtbarerer Dämon als ich, nicht wahr?« Seine Hände um ihre Schultern drückten stärker zu. »Ein so schönes Mädchen wie du sollte nicht für einen alten Verbrecher in den Tod gehen. Kämpfe um dein Leben. Überzeuge ihn.« Unvermittelt ließ er Tara los. Ihr ohnehin dröhnender Kopf prallte auf den harten Rahmen des Feldbetts. Tara zog vor Schmerz die Luft ein. Sterne tanzten vor ihren geschlossenen Augenlidern.
Als sie die Augen wieder öffnete, war er fort. Tot?, dachte sie. Anna ist tot? Ist alles umsonst gewesen? Das Wissen über Annas Schicksal und ihre eigene gefährliche Lage entfachte ihren Hass auf den Bhoot zu einem Feuersturm.
Wie eine Rasende machte sie sich wieder über ihre Fesseln her.
Wäre die Wut nicht gewesen, die Verzweiflung, die Angst und, ja, der Hass, der Herr der Vögel hätte längst aufgegeben. Es war jetzt über eine Stunde her, seit er Kim verlassen hatte, und er spürte jede Faser seines zerschundenen Körpers. Die in den letzten Tagen durch pure
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