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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Luft zu gewöhnen, waren die Hotels schneller aus dem Talboden gewachsen als Buchweizenschösslinge.
    Die Alte fiel ihm wieder ein, und er wurde unruhig. Sie hatte ein gutes Gedächtnis, denn er war tatsächlich schon einmal in diesem Haus abgestiegen – vor sehr langer Zeit. Es war die Nacht vor jenem Tag gewesen, der sein Leben und das seiner Leute von Grund auf verändert hatte. Seitdem hatte er das Haus gemieden, um nicht in Verbindung gebracht zu werden mit dem brutalen Kampf, der sich vor einundzwanzig Jahren wenige Stunden oberhalb Manangs auf einem versteckten Hochplateau zugetragen hatte.
    Unmerklich hatte sich der Himmel violett verfärbt, und die Sterne verblassten. Der Pangje hielt den Blick fest auf die Berggipfel geheftet, die Zahnbürste im Mundwinkel. Schaum tropfte auf seinen Mantel, ohne dass er es bemerkte. Schnell wurde es heller, und dann, von einer Sekunde zur nächsten, flammte die Spitze des höchsten Berges in orangefarbenem Feuer auf. Mit angespanntem Kiefer beobachtete Pangje, wie das Feuer zum nächsten Gipfel sprang, wie die hellen Dreiecke größer wurden, wie sich Schatten in den tiefen Rinnen fingen und die Eiskappen aufleuchteten.
    Plötzlich knackte es. Die zerbissene Zahnbürste fiel ihm aus dem Mund. Ärgerlich spuckte er die Plastiksplitter aus. Anstatt dämlich wie ein Yak auf die Landschaft zu glotzen, sollte er zusehen, dass er sich aus dem Staub machte.
    Er schüttete den Rest des Wassers auf den Boden und ging zurück in die warme Küche. Sobald die alte Frau ihn erblickte, schenkte sie ihm einen dampfenden Milchtee in seinen Becher. Noch waren sie allein, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die anderen Gäste munter wurden. Aus dem Nebenraum erklang bereits die Ouvertüre des anbrechenden Tages: Rascheln und Räuspern, Kinderweinen, Gähnen und Flüstern. Das Dhal Bhat war fertig, und der Pangje ließ sich einen Teller geben. Sobald er aufgegessen hatte, bezahlte er die Alte und eilte flink wie eine Raubkatze ins Zwielicht des neuen Morgens.

[home]
9
    I ndien?« Die Art, wie Rebecca das Wort aussprach, beinhaltete einen mindestens zwanzigseitigen Fragenkatalog und am Ende die Feststellung, Anna sei verrückt geworden.
    Anna nickte unglücklich. Die Fragen hatte sie sich auch schon gestellt, und keine Antworten gefunden, zumindest keine befriedigenden. Dass sie verrückt geworden sei, stimmte nicht, aber sie war auf dem besten Weg.
    »Warum?«
    Frage eins, dachte Anna. Die am wenigsten zu beantworten war. Sie wand sich. Um Zeit zu schinden, ließ sie ihren Blick durch das kleine Galerie-Café streifen, als würde sich die Antwort, die sie suchte, irgendwo zwischen den Sofas und Bänken und Bildern verstecken. Sie hatte Rebecca in den Mondmann eingeladen in der Hoffnung, auf neutralem Terrain würde es ihr leichter fallen, die Fassung zu bewahren. Während ihre Freundin geduldig wartete, betrachtete Anna die große Leinwand an der Wand über ihrem Tisch. Der Künstler hatte Männchen mit Heftpflasterkörpern und spinnendünnen Ärmchen und Beinchen in eine diffuse dunkelbraune Landschaft geklebt, die mindestens ebenso bedrohlich wirkte wie der Umriss von Indien in ihrem Atlas. Anna beugte sich vor, um die weiße Karte mit dem Bildtitel zu lesen. »Weggehen für Fortgeschrittene« hatte der Künstler sein Bild genannt. »Weggehen für Stehengebliebene« wäre passender gewesen, dachte Anna. Zumindest für mich.
    »Dich bedrückt etwas«, stellte Rebecca fest. »Und zwar nicht nur die Trauer um deine Mami. Also, spuck es aus. Was treibt dich ausgerechnet nach Indien?«
    Anna lehnte sich wieder zurück. »Vor besten Freundinnen kann man nichts geheim halten, oder?«
    Rebecca grinste. »Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, dass etwas im Busch ist? Wenn du mir nicht zuvorgekommen wärst, hätte ich dich spätestens in zwei Wochen in den Schwitzkasten genommen und es aus dir herausgewrungen. Du solltest dich mal sehen. Das Elend auf zwei Beinen. Es ist kaum noch zu erkennen, wie hübsch du bist.«
    »Hör auf. Du bist hübsch, nicht ich.«
    Rebecca tippte sich an die Stirn. »Deine Blondinenobsession ist pathologisch. Wir müssen uns dringend mal wieder um deinen Minderwertigkeitskomplex kümmern. Schaust du eigentlich nie in den Spiegel? Normalerweise werden blasse, rehäugige Schönheiten wie du Filmstars: weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, rot wie … ach nee. Lippenstift trägst du ja nicht. Blödes Schneewittchen.« Ihr Augenaufschlag war so entwaffnend,

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