Im Tal des Schneeleoparden
später, Oktober 2003
S ie hatten es geschafft: Der Reis war geerntet und sicher verstaut. Jetzt blieb nur noch eines zu tun, bevor die Felder für die Wintersaat von Buchweizen vorbereitet werden konnten. Tara ergriff ein Bündel trockenes Reisstroh, schlug die Körner heraus und ließ den ungeschälten Reis auf den langsam anwachsenden kleinen Hügel rieseln, den sie gemeinsam mit ihrem Vater auf dem höchstgelegenen ihrer Felder anhäufte. Bevor Tara ein weiteres Reisstrohbündel ausschlug, streckte und dehnte sie sich. Ihr Rücken schmerzte von der anstrengenden Erntearbeit der letzten Wochen. Und obwohl sie froh sein sollte, dass der Ernte eine kurze Zeit der Erholung folgen würde, fürchtete sie sich vor den kommenden Monaten. Die Arbeit hatte ihren noch immer schwärenden Kummer über den Verlust der Schwester in den Hintergrund gedrängt, aber sie ahnte, dass er sie in den langen dunklen Abendstunden mit erneuter Wucht treffen würde.
Traurig blickte sie talwärts auf die Häuser ihres Dorfes. Es gab keinen echten Dorfkern – in lockeren Abständen duckten sich die kleinen, mit orangefarbenem und weißem Lehm bestrichenen Steinhäuser unter Laubbäume und, in der Nähe der Wasserstelle, meterhohen Bambus. Hier und da ließ die Sonne die Wellblechdächer der wohlhabenderen Familien aufblitzen. Tara suchte ihren eigenen Hof. Im Laufe des Sommers hatten sie und ihr Vater das Dach des Hauses mit neuem Stroh gedeckt, und auch der Büffelunterstand hatte sowohl ein neues Dach bekommen als auch zwei aus groben Planken errichtete Holzwände. Mehr hatten sie nicht bauen können, denn Bahadur und Biraj waren nur selten und dann nur für ein oder zwei Tage nach Hause zurückgekehrt – zu kurz, um wirklich helfen zu können.
Tara kniff die Augen zusammen. Eine rotgekleidete Gestalt bewegte sich auf das Haus zu. Tara konnte deutlich eine große Metallkanne auf dem Rücken der Frau erkennen. Sie schüttelte resigniert den Kopf. Ihre Mutter hatte Wasser geholt, eine Schinderei, für die selbst Tara eine halbe Stunde unterwegs war, denn die Wasserstelle war weit. Wie oft hatte sie der kränklichen Mutter schon verboten, Wasser zu holen? Liebevoll beobachtete sie die winzige Gestalt. Ihre Ama würde niemals aufgeben.
Und ich auch nicht, dachte Tara und ließ den Blick weiter durch das Dorf wandern, bis zu dem dichten dunkelgrünen Wald aus Rhododendronbäumen oberhalb der Häuser. Im Frühling verwandelte sich der Wald für kurze Zeit in ein rotes Blütenmeer, das ihrem Dorf den Namen gegeben hatte: Raato Danda, der rote Hügel. Der Rhododendronwald schützte das Dorf vor Schlammlawinen, denn rund um Raato Danda waren die Berghänge mit Terrassenfeldern überzogen. Es hatte Generationen gedauert, die Felder anzulegen, aber ihre Zerstörung dauerte nur Augenblicke. Es geschah nicht oft, doch alle paar Jahre rutschte während der Regenzeit an den steileren Stellen des Berges ein Teil der Terrassenfelder zu Tal. Wehe dem, der sich dann dort aufhielt.
Im Moment glichen die Felder des Dorfes einem Ameisenhaufen. Überall konnte Tara Menschen erkennen, die teils mit der Ernte, teils mit dem Pflügen oder auch mit der Ausbesserung der Erdwälle beschäftigt waren. Niemand sah auf, alle hielten ihre Augen auf den Boden geheftet. Tara seufzte. Manchmal fragte sie sich, ob sie die Einzige im Dorf war, die den Kopf hob, um über den engen Horizont ihres Lebens zu spähen.
Um sich von ihren trüben Gedanken abzulenken, bückte sie sich und schlug ein weiteres Reisbündel aus. Stumm schichtete sie Handvoll um Handvoll Reis auf den Haufen, bis der Vater ihr Einhalt gebot.
»Ich denke, es ist genug«, sagte er.
Der Reishaufen war etwa auf Kniehöhe angewachsen. Tara nickte und trat zurück, während ihr Vater ein Messer nahm und es mit der Klinge nach oben in den Haufen steckte. Prüfend drehte er die Klinge des Messers hin und her, bis er zufrieden war. Sie wies nun direkt auf das ferne Annapurna-Massiv. Es schien unwirklich nah in der atemberaubenden Klarheit des spätherbstlichen Tages.
Tara liebte die hohen Berge, ihre Unnahbarkeit, Reinheit und Schönheit. Ein plötzliches Hochgefühl erfasste sie, und aus einem Impuls heraus öffnete sie die Arme und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Von ihrem Feld aus hatte sie einen ungehinderten Blick in alle Himmelsrichtungen. Nach Tibet hin erhob sich das gewaltige Bollwerk des Gorkha Himal mit seinen blendend weißen, am Himmel kratzenden Gipfeln. Lediglich am Himal Chuli
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