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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Gespenster vor«, sagte Matthias und schlug ihm auf die daunengepolsterte Schulter. »Komm, lass uns weitergehen. Wenn wir Muktinath auf der anderen Seite des Passes nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, haben wir ein ernstes Problem und – o Gott, jetzt habe ich auch etwas gesehen! Sieh nur, dort! Aber es ist kein Tier. Es steht aufrecht.« Die letzten Worte flüsterte er nur noch. »Und es hat etwas Rotes dabei. Vielleicht eine Mütze.«
    Die beiden jungen Männer erstarrten. Obwohl Matthias glaubte, die Umrisse eines Menschen erkannt zu haben, kroch ihm eine Gänsehaut den Rücken hinauf. Er hatte das Gefühl, die Temperatur sei plötzlich noch um einige Grade gesunken. Irgendetwas war seltsam an dieser Gestalt. Er versuchte ein Grinsen, doch es gefror auf halbem Wege. »Sollen wir nachsehen?«
    Peter schüttelte den Kopf, und Matthias fragte sich, ob auch in seinen Augen die Angst lauerte, die seinem Freund so deutlich ins Gesicht geschrieben stand. »Ein Yeti?«, fragte Peter leise.
    Matthias glaubte an einen Scherz, doch Peter meinte es bitterernst. Matthias packte ihn am Arm. »Nun mach aber einen Punkt«, sagte er verunsichert. »Yetis sind Fabelwesen. Dort ist nichts. Der Nebel macht die Felsen lebendig.«
    In diesem Moment drang ein gedämpfter Laut zu den beiden Männern herüber, ein geisterhaftes, unirdisches Jaulen, und erstarb sofort wieder.
    Sie blieben keine Sekunde länger. Gepackt von Entsetzen, eilten sie davon, so schnell es die sauerstoffarme Luft erlaubte, hinein in den unheimlichen Nebel, zum Pass, fort, nur fort hier, und selbst als sie die windumtoste Passhöhe schon längst überwunden hatten, als die Luft wärmer und gehaltvoller wurde, als sich die Wolken hoben und sie tief unter sich den kleinen Pilgerort Muktinath entdeckten, schauten sie immer wieder zurück, jederzeit darauf gefasst, einen grausigen Verfolger zu entdecken.
     
    Sie erreichten Muktinath im trüben Licht der Abenddämmerung. An einem anderen Tag wäre ihnen das Dorf mit seinen gelbgrauen Felssteinhäusern, den kahlen, wie verbrannt aussehenden Bäumen und staubigen Wegen trostlos und traurig vorgekommen, doch heute, nach dem überstandenen Schrecken und beinahe sechzehn Stunden Fußmarsch, erschien es ihnen wie ein Schutz und Wärme verheißendes Shangri-La, versteckt in den fahlbraunen Falten der Berge. Lachend und stolpernd eilten sie die letzten zweihundert Meter bergab, bis sie zum Hauptweg kamen. Zweistöckige Häuser, deren Steinmauern wuchtig dem Wind und der Kälte trotzten, reihten sich aneinander, jedes ein Hotel. Vor einem blieben sie stehen.
    »Kneif mich«, sagte Peter.
    »Brauche ich nicht. Es heißt tatsächlich Bob Marley Hotel. Wollen wir?«
    Ein halbe Stunde später saßen sie gemeinsam mit drei jungen Engländerinnen und ihren beiden nepalesischen Trägern in der Gaststube des Hotels, tranken den Apfelschnaps der Region und gerieten zunehmend in Hochstimmung. Die Schrecken des Tages waren vergessen, an ihre Stelle trat der Stolz, es geschafft zu haben. Außer Matthias und Peter hatte an diesem Tag wegen des schlechten Wetters niemand den Pass überquert, und ohnehin waren aufgrund der politischen Unruhen nur wenige Touristen im Land. Die Frauen und ihre Begleiter waren aus der anderen Richtung gekommen, hatten mit Muktinath den höchsten Punkt ihrer Wanderung erreicht und wollten am nächsten Tag den Rückweg antreten. Matthias erzählte von den Anstrengungen und schließlich, nach kurzem Zögern, auch von ihrer unheimlichen Begegnung. Er versuchte den Vorfall herunterzuspielen, doch wieder stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Die anderen verstummten und blickten ihn unsicher an, bis einer der Träger, ein etwa fünfunddreißigjähriger, sehniger Mann, das Wort ergriff. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Furcht und Bewunderung mit.
    »Ein Mann, sagst du? Oder ein Tier?« Leise, so als wollte er verhindern, außerhalb ihres kleinen Kreises gehört zu werden, fuhr er fort: »Ihr habt ihn gesehen und doch nicht gesehen: den Geist der Berge. Ein Mann ist es, einer, der sich in einen Schneeleoparden verwandeln kann, wann es ihm beliebt. Niemand weiß, wo er herkommt, und lange hat man nichts von ihm gehört.« Ängstlich blickte er zur Tür, als ob sie jederzeit aufgestoßen werden und das Mann-Tier-Wesen eintreten könnte. »Nun geht er also wieder um. Wehe dem, der sich dem Pangje in den Weg stellt.«
    Matthias lag in jener Nacht noch lange wach. Er wusste, dass in abgelegenen

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