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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Bergregionen die Legenden und Mythen farbige Blüten trieben, warum sollte es hier also anders sein als in den Alpen? Und doch. Hatte nicht auch er den aufrechten Mann gesehen, dort oben in den Wolken, und einen Wimpernschlag später den gedrungenen Körper eines großen Tieres?
     
    Jenseits des Thorung-La, viele Wegstunden unterhalb der Passhöhe, hatte sich eine bunt zusammengewürfelte Zufallsgemeinschaft von nepalesischen Bergbauern und fliegenden Händlern, Pilgern und Karawanenführern im größten Raum einer Herberge versammelt, der gleichzeitig als Gaststube, Laden und Spielzimmer für die unzähligen Kinder der Gastgeber und Gäste fungierte. Die Herberge gehörte zu den wenigen in Manang, die sich nicht auf Touristen eingestellt hatte. Wie meist war sie besetzt bis auf die letzte Lagerstatt, und wer dann noch kam, musste mit einer Matte auf dem Boden vorliebnehmen. Die Gäste ertrugen die Enge gelassen, sie waren anspruchslos und hätten sich ohnehin eine Unterkunft in einem der Touristenhotels nicht leisten können. Und sie wollten es auch nicht. Wer brauchte schon Einzelzimmer oder Glasfenster oder Toiletten mit Wasserspülung? Nein, hier war man unter sich, aß ein gutes Dhal Bhat, trank vielleicht einen Rakshi und tauschte den neuesten Klatsch aus.
    Etwa zu der Zeit, als auf der anderen Seite des Passes die Gäste des Bob Marley Hotel zum zweiten Mal ihre Gläser füllten, wurde die Tür des Gasthofes aufgestoßen. Die hereinquellende kalte Luft ließ die Gäste frösteln und brachte die lebhaften Gespräche zum Verstummen. Alle wandten sich zur Tür. Wer mochte um diese späte Zeit noch unterwegs sein?
    In die Stille trat ein Mann von sechzig oder sogar siebzig Jahren, genau war es nicht auszumachen. Sein weiter Mantel und der Türkisen- und Korallenschmuck verriet den Gästen, dass der Mann aus den Hochtälern stammte, wo Kälte und trockene Luft den Menschen zusetzte und sie vor der Zeit altern ließ. Auf dem Kopf trug er eine leuchtend rote Wollmütze, unter der dichtes, schulterlanges Haar hervorlugte, das Dunkelbraun von silbernen Fäden durchzogen. Trotz seiner abgetragenen Kleidung strahlte der späte Gast eine Autorität aus, der sich die Anwesenden nur schwer entziehen konnten. Verunsichert senkten sie die Augen, als sein katzengrüner Blick über die Gesellschaft glitt, bevor er knapp grüßte und sich dann der eilfertig herbeilaufenden Wirtin zuwandte. Nach einem kurzen Wortwechsel suchte er sich einen Platz etwas abseits der anderen Gäste. Nur langsam wurden die Fäden der unterbrochenen Unterhaltungen wieder aufgenommen, und immer wieder streiften den Alten verstohlene Blicke. Es war offensichtlich, dass er sich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen wollte, und seine Maulfaulheit heizte die Neugierde umso mehr an. Nur einmal zuckte er unmerklich zusammen, als tatsächlich sein Name genannt wurde, der Name, den viele flüsterten, dessen Träger jedoch alles daransetzte, unerkannt zu bleiben: Pangje. Der Pangje. Das Phantom der Berge.
    Der Pangje war erschöpft. Der Tag war selbst für ihn hart gewesen, da der Aufstieg zum Pass von der Muktinath-Seite her länger und aufreibender war als jener von der anderen Seite, wo die Wanderer in einer hochgelegenen Unterkunft Kraft für den nächsten Tag sammeln konnten. Trotzdem hatte er es vorgezogen, nach der Passüberquerung nicht in dieser Lodge zu übernachten, sondern war Stunde um Stunde weitergeeilt, bis ihn die Nacht einholte, und selbst dann noch war er sicheren Tritts über die schmalen Pfade gegangen, tief verstrickt in seine Gedanken. Er machte sich Sorgen. Wegen des Nebels hatte er die beiden Wanderer oben auf dem Pass zu spät entdeckt und es nicht mehr geschafft, sich hinter den Felsen zu verbergen. Es waren Touristen, unschwer zu erkennen an ihren schrillfarbigen Daunenjacken, allerdings wusste er nicht einmal, ob es sich um Männer oder Frauen gehandelt hatte. Viel brennender interessierte ihn ohnehin die Frage, wie viel die beiden gesehen hatten – und welchen Schluss sie aus ihren Beobachtungen zogen. Da sie überstürzt davongeeilt waren, musste er annehmen, dass sie mehr wahrgenommen hatten, als ihm lieb war.
    Ein Gähnen riss den Pangje aus seinen Überlegungen. Er erhob sich und durchquerte leicht humpelnd den Raum. Am hinteren Ende erklomm er mit geschmeidigen Bewegungen eine Leiter zum Obergeschoss, wo er sich eine freie Stelle auf dem mattenbedeckten Boden suchte, sich in seinen Mantel wickelte und umgehend in Schlaf

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