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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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fiel.
     
    Der Pangje erwachte als Erster, wie beinahe jeden Morgen. Immer in der kalten Jahreszeit waren seine Träume schwer und beunruhigend, so dass er froh war, wenn der Schlaf ihn floh und er der Nacht den Rücken kehren konnte. Einen Fluch unterdrückend, kratzte er sich über den Unterarm. Die Herbergsflöhe hatten sich über ihn hergemacht.
    Er stieg über die anderen Übernachtungsgäste hinweg, unförmige Klumpen, unter den speckigen Decken kaum auszumachen. Behutsam, um sie nicht zu wecken, huschte er zur Bodenluke und kletterte die Leiter hinunter ins Erdgeschoss. Der Raum war so dunkel, dass er die auf dem Boden schlafenden Menschen nur erahnen konnte. Der saure Geruch von Schweiß, Tierdung, brennendem Holz und gekochten Linsen hing in der Luft. Er ertastete sich den Weg zu einer Türöffnung im hinteren Teil des Raums und raffte die vor der Tür hängende Decke beiseite. Dichter Rauch schlug ihm entgegen, und der Linsengeruch verstärkte sich.
    Flackerndes Licht fiel auf die Gestalt einer alten Frau, die vor einem aus Steinen gebauten Herd kauerte und zwei rußschwarze Töpfe bewachte.
    »Du bist früh auf den Beinen, Hajuama«, grüßte er die Alte.
    Nachdem sie einen weiteren trockenen Ast in die Feueröffnung geschoben hatte, wandte die Frau dem Gast ihr Gesicht zu, zerfurcht und verwittert wie die Berge, in deren Schatten sie lebte. Sie lächelte ihn breit an, und er sah, dass ihr nur noch wenige Zähne verblieben waren.
    »Du ebenfalls, Alter«, krächzte sie. Jahrzehnte vor dem qualmenden Herd hatten ihre Stimme gegerbt. Dann warf sie einen prüfenden Blick in die Töpfe. »Du musst dich gedulden. Das Dhal Bhat ist noch nicht fertig. Ich kann dir bis dahin einen Tee anbieten.«
    »Den nehme ich gern, aber erst muss ich nach draußen. Hast du Wasser für mich?«, fragte er.
    Sie zeigte über ihre Schulter auf einen Plastiktank. Dankend tauchte er einen Blechbecher in das Wasser. Er wollte gerade durch den Hinterausgang nach draußen schlüpfen, als die Alte ihn aufhielt.
    »Kenne ich dich nicht?«, fragte sie. »Warst du schon einmal hier?«
    Der Pangje erstarrte. »Das ist unmöglich, Hajuama«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. »Ich bin zum ersten Mal in deinem Gasthaus.«
    »Hmm«, brummte sie, offensichtlich unzufrieden mit der Antwort. »Ich hätte darauf schwören können. Meine Augen sind nicht mehr die besten, aber ich vergesse nie eine Stimme. Deine ist sonderbar, und ich bin mir sicher, sie schon einmal gehört zu haben.«
    »Ich bin nicht viel jünger als du und weiß, dass einen manchmal das Gedächtnis trügt. Vielleicht kommt dir meine Stimme bekannt vor, weil wir in Mustang das Tibetische anders aussprechen?«
    »Das könnte sein.« Sie rührte wieder in einem Topf. Der Pangje wartete auf eine abschließende Antwort, und als sie nicht kam, verließ er das Haus.
    Ein sternenklarer Himmel und eiskalte Luft empfingen ihn. Als er sich gegen einen Felsblock erleichterte, stiegen Dampfwolken von seinem warmen Urin auf. Er zog den Strick um seine Hose wieder fest und suchte in einem unter dem weiten Mantel verborgenen Beutel nach seiner Zahnbürste. Sie war neu und ersetzte eine Bürste, die ihm über ein Jahr lang hatte genügen müssen. Mit einem Hochgefühl schraubte er eine ebenfalls in Muktinath erworbene Tube auf und drückte vorsichtig eine winzige Menge Zahnpasta auf die Borsten, steckte die Bürste in den Mund und begann kräftig zu putzen.
    Der Pangje liebte die frühen Stunden im Herbst, wenn die Luft klar war und der Dunst des Sommers nur eine ferne Erinnerung. Kurz blickte er zu dem beinahe achttausend Meter hohen Gipfel des Gangapurna, streifte den hellen Gletscher an seiner Nordflanke und senkte dann den Kopf. Nachdenklich musterte er das langgestreckte Tal zu seinen Füßen. Vieles hatte sich verändert in den letzten Jahren, ob zum Vorteil oder Nachteil, wusste er nicht zu sagen. Früher war das Tal Feldern und Weiden vorbehalten gewesen, kleinen, von Steinmauern eingefassten Parzellen, mühsam dem steinigen Boden abgetrotzt. Doch seit der Strom der Touristen immer stärker geworden war, hatten sich viele Bewohner längs der Annapurna-Wanderstrecke der neuen Zeit angepasst und verdienten ihr Geld, indem sie den Fremden Annehmlichkeiten anboten, von denen sie selbst nur träumen konnten. Gerade in Manang, einem Ort, an dem die ungeübten Wanderer oft zwei oder gar drei Tage blieben, um ihren müden Körpern eine Verschnaufpause zu gönnen und sich an die sauerstoffarme

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