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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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kenne dich seit der dritten Klasse. Und deine Eltern ebenfalls. Sie sind … sie waren … Ach Scheiße. Ich streue schon wieder Salz in deine Wunden.«
    »Mach weiter«, flüsterte Anna. So hatte selbst Rebecca noch nie mit ihr gesprochen. Es tat auf eine masochistische Art gut, ihre Einschätzung zu hören, zumal sie sich mit dem deckte, was Anna schon vor ein paar Monaten empfunden hatte: Sie wurde langsam unsichtbar.
    »Ich mochte deine Mutter sehr, das weißt du. Und dein Vater? Himmel, wie gern wäre ich deine Schwester! Er ist immer so lieb zu dir und Timo, so ruhig, so verständnisvoll – ganz anders als meiner.« Die Bitterkeit in Rebeccas Stimme war nicht zu überhören, aber sie fing sich schnell. »Vielleicht waren deine Eltern zu nett. Sie haben dir keinen Grund gegeben, zu rebellieren«, sagte sie nachdenklich.
    Anna war mehr und mehr in sich zusammengesunken, aber die letzte Behauptung konnte sie nicht unkommentiert stehenlassen. »Ich habe auch rebelliert. Erinnerst du dich nicht?«
    Rebecca stutzte, aber dann breitete sich ein verschmitztes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Na, und ob. Du hast volle Pulle über die Stränge geschlagen. Hast dich fürchterlich betrunken und bist mit einer Gruppe Mädels, inklusive meiner Wenigkeit, nachts ins Freibad eingestiegen und in voller Montur ins Becken gesprungen.« Sie prustete los. »Ich werde nie vergessen, wie wir alle nass wie die Pinguine von der Polizeistreife bei unseren Eltern abgeliefert wurden. Mein Vater hat mir den Hintern versohlt.« Sie kniff die Augen zusammen. »Und wie haben deine Eltern reagiert?«, fragte sie lauernd.
    »Sie haben den Polizisten ins Gesicht gelacht, mir eine Aspirin gegeben und mich ins Bett gesteckt. Nicht ohne einen Eimer danebenzustellen, falls ich kotzen muss.«
    »Hast du es jetzt begriffen?«
    »Was begriffen?«
    »Deine Eltern wären wahrscheinlich sogar froh darüber gewesen, wenn du öfter mal Unsinn verzapft hättest. Na, das hat dein Bruderherz dann nachgeholt. Aber ich schweife ab. Eigentlich geht es hier gerade um Indien. Du fliegst also hin, um mit dieser ominösen Ingrid zu quatschen und einige Ungereimtheiten aus der Welt zu räumen, die dir den Schlaf rauben.«
    »So ungefähr.«
    »Du fliegst allein?«
    Anna nickte. In ihrem Hals bildete sich ein neuer Kloß. Um das Maß vollzumachen, würde sie ihre Reise ausgerechnet in Kalkutta starten. Sie hatte viel über diese Stadt gehört, nur nichts Gutes.
    »Wann?«
    »In vier Wochen. Am 20. Oktober.«
    »Schon? Ich hoffe, dass ich so kurzfristig Urlaub bekomme.«
    »Du willst mitkommen?«
    »Klar. Meinst du, ich lasse dich allein?« Rebeccas Augen blitzten abenteuerlustig. Sie wollte gerade weitersprechen, als sie Annas hilflosen Gesichtsausdruck sah. »Oder möchtest du mich nicht dabeihaben?«
    Anna wurde rot. »Wenn ich ehrlich sein soll: Ich würde gern allein fahren.«
    »Respekt.« Rebecca schüttelte langsam den Kopf. »Süße, das ist völlig in Ordnung.«
    »Entschuldige. Anfangs wollte ich dich tatsächlich fragen, aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde mir, dass ich die Sache allein durchstehen muss. Keine Ahnung, warum. Es ist nur ein Gefühl, aber ein starkes.«
    »Dann musst du diesem Gefühl folgen. Und jetzt gehen wir einkaufen. Du brauchst etwas Anständiges zum Anziehen für Indien. Wie ist das Wetter dort?«
    »Ingrid schrieb, in Darjeeling sei es im Oktober schon sehr kalt. Ich denke, eine Fleecejacke wäre das Richtige.«
    Rebecca verdrehte die Augen. »Eine wunderbar praktische Fleecejacke, ja? In Farben, auf denen man den Schmutz nicht sieht? Braun vielleicht? Oder grau?« Sie stand auf und blitzte Anna an. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte!«
    Nachdem Anna bezahlt hatte, verließen die Freundinnen das Café. Vor der Tür legte Rebecca in Beschützermanier den Arm um Annas Schultern, was ihr keinerlei Probleme bereitete, da Anna fünfzehn Zentimeter kleiner war als sie. Mit leiser Belustigung stellte Anna fest, dass in ihrem Leben fast ausschließlich große und blonde Menschen eine wichtige Rolle spielten. Lediglich ihre Mutter war klein und dunkel gewesen, wenn auch nicht so zierlich wie ihre Tochter. Anna zuckte die Achseln und ließ sich ohne Widerstand von Rebecca zu einer Boutique dirigieren. Vielleicht würde sie sich heute wirklich etwas Farbiges kaufen. Nach dem reinigenden Gespräch mit ihrer Freundin hatte selbst Indien einen Teil seines Schreckens verloren.

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10
    Vier Wochen

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