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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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hatte sich eine Wolkenfahne verfangen, vielleicht war es aber auch Schnee, den der Wind vom Gipfel blies. Tara schauderte. Obwohl die Sonne sie wärmte, trug die Luft einen Hauch von Winter heran, eine Kühle, die sie mehr sah als spürte. Sie drehte sich weiter, ließ die braunen Hänge der Vorberge mit ihren heiligen Gletscherseen an sich vorbeiziehen und die weiter entfernten Riesen des Ganesh-Himal-Massivs im Osten. Sie zählte die Dörfer auf der gegenüberliegenden Talseite und verlor sich im Süden, dort, wo die Berge immer niedriger wurden und es keine Grenzen zu geben schien. Ihr Vater betrachtete neugierig ihr Tun, enthielt sich glücklicherweise aber einer Bemerkung. Tara hätte ihm nur schwer erklären können, was sie empfand, und Buba hätte es ohnehin nicht verstanden.
    »Warum machen wir das?«, fragte sie mit einem Kopfnicken zu dem in dem Reishaufen steckenden Messer.
    »Aber das weißt du doch«, antwortete ihr Vater überrascht. »Wir bitten die Göttin des Überflusses darum, dass der Reis nie zu Ende geht und wir bis zum Frühjahr genug für die neue Aussaat zurückbehalten können.«
    »Das meine ich nicht. Natürlich müssen wir Annapurna um Hilfe bitten. Aber warum das Messer?«
    Nun war er wirklich verblüfft. »Ich weiß es nicht«, gab er schließlich zu. »Mein Vater hat es so gemacht, mein Großvater hat es so gemacht, und alle anderen im Dorf auch. Ich folge den Traditionen.«
    Tara seufzte innerlich. Alle folgten den Traditionen, ohne sie zu hinterfragen. Oft bewahrten die Traditionen das Gute, aber in letzter Zeit grübelte sie immer häufiger darüber nach, ob sie nicht auch notwendige Veränderungen verhinderten. Sie hatte mit Bahadur darüber gesprochen, als er im Sommer zu Hause gewesen war, und ihr Bruder hatte ihr mit glänzenden Augen von den Maoisten und ihren Zielen erzählt. Von all den politischen Verwicklungen hatte Tara nicht viel verstanden, aber eines war doch in ihrem Kopf hängengeblieben: Am Ende sollten die einfachen Leute eine Stimme bekommen, sie sollten selbst über ihr Geschick bestimmen dürfen. Sie fragte sich seitdem, ob so etwas funktionieren konnte. Aber eine schöne Vorstellung war es durchaus.
     
    Es dämmerte schon, als Tara und ihr Vater zum Haus zurückkehrten, die Dokos schwer von trockenem Feuerholz, das sie auf dem Rückweg gesammelt hatten. Als sie den Hof betraten, löste sich eine schlanke Gestalt aus dem Dunkel der überdachten Veranda. Tara ließ die Kiepe achtlos von ihrem Rücken rutschen, sprang freudig dem Mann entgegen und warf sich in seine weit ausgebreiteten Arme.
    »Bahadur! Endlich bist du wieder da. Wann bist du gekommen? Wie lange bleibst du? Habt ihr gewonnen? Wie geht es Biraj?«
    Bahadur drückte sie fest an sich. »Es tut gut, dich zu sehen, Bahani«, murmelte er in ihr Haar, so leise, dass Tara ihn kaum verstehen konnte. Die Geschwister blieben eine lange Weile schweigend stehen, bis ein Räuspern sie auseinanderfahren ließ.
    »Willkommen, Sohn. Was treibt dich her? Wollen sie dich nicht mehr?«, fragte Dipendu Lamichhane bitter. »Wenn du zum Arbeiten gekommen bist, so hast du eine gute Zeit gewählt. Die Ernte ist vorüber.«
    Bahadur löste sich von Tara und trat mit gesenktem Kopf vor seinen Vater.
    »Namaste, Buba«, grüßte er. »Ich verstehe deinen Zorn, doch bedenke, dass wir diesen Kampf für uns alle fechten. Für dich, für Ama, für Tara –«
    Der Vater unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Die Bitterkeit war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einer tiefen Traurigkeit Platz gemacht. »Ich glaube nicht an euren Krieg, die Guten unterliegen immer. Wenn ihr denn die Guten seid. Still!« Er hob die Hand, um Bahadurs Antwort zu unterdrücken. »Du bist hier willkommen, und du brauchst dich vor mir nicht zu verteidigen. Vielleicht führt ihr uns ja tatsächlich in eine bessere Welt.« Er legte Bahadur seine abgearbeitete Hand auf die Schulter, eine seltene Geste der Vertraulichkeit. »Und nun beantworte Taras Fragen. Habt ihr etwas erreicht?«
    Nervös kratzte Bahadur mit der Schuhspitze den Lehm aus einer der Steinfugen. »Die Armee ist nicht leicht zu besiegen«, sagte er schließlich. »Die Soldaten sind viel besser bewaffnet. Vor zwei Wochen haben wir uns südlich von Gorkha mit Regierungstruppen einen Kampf geliefert. Zwei Männer sind erschossen worden und –«
    »Biraj!« Tara stürzte sich auf Bahadur. »Er ist tot!« Wie eine Wahnsinnige hämmerte sie mit den Fäusten auf ihren älteren Bruder ein.

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