Im Tal des Schneeleoparden
seinen Worten herauszuhören. Der nächste Satz bestätigte ihre Vermutung. »Aber ich werde es nicht tun. All meine Träume, die ich vor langer Zeit hegte, damals in Kathmandu, haben sich zerschlagen. Jetzt liegt es an euch, für eure Träume zu kämpfen, seien sie auch noch so unerreichbar.«
Tara hielt vor Erstaunen mit ihrer Arbeit inne.
»Träume? In Kathmandu? Damals?«, fragte Bahadur verblüfft. »Wann warst du in Kathmandu?«
»Vor langer Zeit«, antwortete Buba. Mit angehaltenem Atem wartete Tara auf eine Erklärung, doch sie kam nicht.
Dann fragte Bahadur: »Was hast du dort gemacht? Wann war das? Du hast nie davon erzählt.«
»Und das werde ich auch jetzt nicht tun.« Bubas Stimme klang bestimmt. »Vergesst, dass ich es überhaupt erwähnt habe. Wie lange wirst du bleiben?«
Bahadur schüttelte den Kopf, als wolle er testen, ob er richtig gehört hatte. »Nur bis übermorgen«, sagte er. »Biraj wird hierbleiben und sich erholen. Wenn jemand fragt, erzähl ihnen, er wäre in Kathmandu von einem Auto angefahren worden. Sie glauben doch nach wie vor, wir seien in Kathmandu, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte der Vater. »Aber darauf kommt es nicht an. Viele der Familien stehen hinter eurer Sache. Die Söhne der Dhitals sind ebenfalls gegangen, ebenso Sunil und Subash und Dhanmaya, Sunbahadurs Tochter. Hast du sie nie getroffen?«
Bahadur schüttelte den Kopf. »Manche werden ins Terai geschickt, andere in den Westen.«
Tara hatte genug gehört. Die Gelegenheit zur Flucht, auf die sie schon so lange gewartet hatte, war endlich da. Die Hauptarbeit des Jahres war erledigt, ihr verletzter Fuß war völlig ausgeheilt, und mit dem Verkauf von Eiern hatte sie etwas Geld verdient. Bahadur würde sie verfluchen, weil sie ihm nichts anderes übrigließ, als auf dem Hof zu bleiben, aber wenn sie zurückkam, würde seine Freude umso größer sein. Übermorgen wollte er die Familie wieder verlassen? Sie hatte also nur einen Tag Zeit, ihre Vorbereitungen zu treffen.
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11
N achdem sie Anna ein letztes Mal umarmt hatte, blieb Rebecca noch lange am Geländer stehen. Unter ihr dehnte sich die geräumige Halle mit den Kabinen der Bundesgrenzschutzbeamten, zu der sie keinen Zutritt hatte. Müßig verfolgte sie das Aufrücken der Schlange vor der Passkontrolle. Die meisten Passagiere wirkten gelassen, manche hielten kleine Kinder am Handgelenk fest, um sie am Herumstreunen zu hindern, andere kontrollierten ein letztes Mal ihre Papiere, ein Mann las sogar im Stehen die Zeitung. Lediglich Anna umgab eine nervöse Aura. Rebecca musterte den schmalen Rücken ihrer Freundin. Selbst aus der Entfernung wirkte Anna verkrampft, immer wieder drehte sie sich um und winkte zu ihr herauf, woraufhin Rebecca ihr Kusshände zuwarf.
Rebecca machte sich Vorwürfe. War es richtig gewesen, Anna allein reisen zu lassen? Ihre Freundin war der liebenswerteste Mensch, den sie kannte, aber gleichzeitig schutzbedürftig wie ein Rehkitz. Rebecca konnte sich den Aufruhr in Annas Kopf gut vorstellen und hätte viel darum gegeben, jetzt bei ihr sein zu dürfen. Insgeheim beneidete sie zudem Anna um die Indienreise, wenn auch nicht um die Enthüllungen, die auf sie zukommen mochten. Rebecca hatte ihre Vermutungen, und keine gefiel ihr. Sie hoffte inständig, dass Anna das Schlimmste erspart bliebe.
Aber wer weiß?, dachte sie. Vielleicht schüttelt all dies meine verhuschte Freundin aus ihrem Schneewittchensarg. Und bei der nächsten Reise verdonnere ich sie dazu, mir den Fremdenführer zu spielen. Der Gedanke tröstete Rebecca genug, um Anna, die nun ihren Pass vorzeigen durfte, ein letztes Mal zuwinken zu können, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Dann war Anna weg, eingesogen in die Gänge und Hallen des Transitbereichs. Rebecca schluckte.
»Es ist furchtbar, seine Lieben gehen zu sehen«, sagte eine belegte Stimme neben ihr. Der dunkelhaarige Mann, dem die Stimme mit dem starken spanischen Akzent gehörte, hielt Rebecca ein Papiertaschentuch entgegen.
Dankbar nahm sie es an und schneuzte sich. Nun hatte sie doch geheult. Die Augen des Mannes waren ebenfalls verräterisch rot geädert.
»Ihre Frau?«, fragte sie.
»Nein, meine Eltern. Sie fliegen zurück nach Argentinien.« Er seufzte hörbar. »Und wen haben Sie verabschiedet?«
»Schneewittchen«, sagte Rebecca. »Schneewittchen auf einer Mission.«
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12
D ie Hälfte der Nacht war vorüber und der Mond untergegangen, als sich Tara leise aus ihren Decken
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