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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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möglichst große Entfernung zwischen sich und ihr Heimatdorf zu bringen, war sie Stunde um Stunde über die einsamen Felder und durch die in tiefem Schlaf versunkenen Dörfer bergab gestolpert, hatte den Fluss im Talgrund auf einer wackeligen, aus zwei nebeneinanderliegenden Baumstämmen gebauten Winterbrücke überquert und war, nachdem die Felder des Tals hinter ihr lagen, wieder in den Wald getaucht. Seit etwa zwei Stunden stieg sie auf einem unter den Bäumen kaum erkennbaren Pfad bergan. Als Kind der Berge ließ sie sich mehr von ihrem Instinkt als von ihren Augen über rutschige Steinstufen, Wurzeln und sonstige Hindernisse leiten. Schritt für Schritt quälte sie sich weiter aufwärts, bis sie ein Chautari erreichte. Erleichtert stellte sie ihren Rucksack auf eine dafür vorgesehene, etwa brusthohe Stufe und kletterte auf den aus grob behauenen Steinen gebauten Block. Zwei Bäume wuchsen aus ihm heraus, ein mächtiger Banyan-Baum und ein nicht minder imposanter Barr-Baum. Vor langer Zeit hatte ein respektvoller Sohn diesen Gedenkplatz errichtet und die Bäume gepflanzt als Symbol für Shiva und Parvati, für das Männliche und das Weibliche, für seinen Vater und seine Mutter. Hier hatten die Seelen seiner Eltern ein Refugium, in das sie müde Wanderer einluden, sich auszuruhen und ihnen für eine Weile Gesellschaft zu leisten. Tara war auf ihrem Weg schon an mindestens einem Dutzend Chautaris vorbeigehastet – sie standen an jedem Pfad und wurden tagsüber viel genutzt.
    Tara fegte mit der Hand ein paar bunte Plastikverpackungen von dem Steinblock und setzte sich, den Rücken gegen den Stamm des Barr-Baums gelehnt. Die Nudelsuppen- und Keksverpackungen erinnerten sie an ihren Hunger, aber sie würde noch ein wenig bis zu ihrer nächsten Mahlzeit warten müssen. Nicht nur wegen ihres knurrenden Magens sehnte sie das Ende der Nacht herbei. Obwohl die Dunkelheit sie vor neugierigen Blicken schützte, wurde ihr der Wald immer unheimlicher. In den Schatten der Steineichen mit ihren bizarr verdrehten Ästen und Flechtenbärten, dort, wo bei Tageslicht Sonnenflecken tanzten und Vögel nach Nahrung suchten, schienen nun böse Geister zu hausen. In der Ferne heulten die Hunde mit den Schakalen um die Wette, sie sangen die Melodie der Nacht. Tara atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Nur noch zwei, vielleicht drei Stunden, dann ging die Sonne auf, und das Schlimmste war überstanden. Ab morgen würde sie tagsüber wandern und sich nachts eine Unterkunft suchen. Die Gefahr, von jemandem erkannt zu werden, würde mit jedem Tag geringer werden. Hauptsache, sie fand den Weg. Als ihr Großvater noch lebte, hatte er häufig von seinen Reisen in die große Stadt erzählt. Fünf Tage waren er und die anderen gewandert, schwerbeladen mit den Erträgen ihrer Arbeit. Damals führte selbst von Gorkha keine Straße nach Kathmandu. Tara hatte sich entschieden, ebenfalls zu laufen. Bahadurs Erzählungen von Soldaten und Straßensperren hatten ihr Angst gemacht, zumal sie keinen Ausweis besaß. Der alte Fußweg schien ihr sicherer. All ihren Mut zusammennehmend, erhob sie sich – und dann stockte ihr der Atem.
    Unter den Bäumen glommen zwei phosphorgrüne Punkte. Augen.
    Leopardenaugen.
     
    Auch Anna war hellwach. Der dicke Inder auf dem Sitz neben ihr schnarchte zum Gotterbarmen, aber nicht nur sein Getöse hinderte sie am Schlafen. Trotz oder gerade wegen ihrer Übermüdung fühlte sie sich mittlerweile wie aufgezogen. Auf dem Flug nach Bombay hatte sie ein paar Stunden gedöst, aber keinen erholsamen Schlaf gefunden. Aufregung, gepaart mit Neugierde und, wie sie sich eingestehen musste, handfester Angst, hatte Bilder von Slums und mageren Kindern, von Unrat und Ratten und bröckelnden Häusern heraufbeschworen, und jeder Versuch, die Schreckensbilder durch andere zu ersetzen – durch Tempel und Paläste, prächtige Saris und Sonnenaufgänge über dem Ganges –, war gescheitert.
    Der Kopf des Inders sackte nach vorn. Für einen Moment herrschte Stille. Hoffentlich bleibt es so, dachte Anna, aber schon setzte das Gurgeln und Grunzen wieder ein. Anna fügte sich ins Unvermeidliche und lehnte sich zurück, aber wie jedes Mal, wenn sie sich entspannte, liefen ihre Gedanken Amok. Mit Schaudern dachte sie an die Landung in Bombay vor wenigen Stunden. Nie hatte sie etwas Schrecklicheres gesehen als die gegen die Landebahn anbrandenden Slumsiedlungen, die den Flugplatz längst überflutet hätten, würden nicht niedrige Mauern

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