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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Leute kamen ins Bild, ein Mann mit bloßem, bemaltem Oberkörper, langhaarige Männer mit Vollbärten und Frauen in weiten Blusen, dazwischen fremde, asiatische Gesichter, dann ein Polizist in Großaufnahme, ebenfalls asiatisch, in khakifarbener Uniform. Das Gebäude, in dem die Menschen dicht an dicht saßen oder standen, schien sehr groß zu sein. Geschnitzte Holzpfeiler verloren sich in der Dunkelheit der hohen Decke, und obwohl Anna die Umgebung nur erahnen konnte, wirkte sie fremd und exotisch auf sie.
    Jetzt richtete sich der Fokus wieder auf die Inderin der Anfangssequenz, die mit einer überraschend hohen Kopfstimme ein Lied zu singen begann. Anna verstand lediglich die Worte ›Hare Krishna Hare Ram‹. Die versammelten jungen Leute wiegten sich zu dem indischen Gesang hin und her, ließen die Hüften kreisen, schüttelten ihre langen Haare. Die Sängerin tanzte nun ebenfalls, und ihr glänzendes pinkfarbenes Gewand überstrahlte die anderen Menschen. Um den Hals und an den Handgelenken trug die hübsche junge Frau Girlanden aus gelben Studentenblumen.
    Sobald das Lied zu Ende war, schaltete Ingrid mit der Fernbedienung den Videorekorder aus. »Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte sie.
    »Das waren Hippies, oder?«
    Ingrid nickte. »Klar, das waren Hippies. Es ist eine Szene aus dem Film ›Hare Rama Hare Krishna‹. Der Film spielt in Kathmandu. Das Haus, das du gesehen hast, steht auf dem zentralen Platz der Stadt. Aber ist dir wirklich nichts aufgefallen? Oder sollte ich besser sagen: Ist dir
niemand
aufgefallen?«
    Anna schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf Ingrid hinauswollte.
    »Dann sieh es dir noch einmal genauer an.« Ingrid spulte den Film zurück und ließ die Inderin abermals auftreten, doch sosehr sich Anna auch auf den Bildschirm konzentrierte, konnte sie doch nichts Auffälliges entdecken. Ingrid spulte erneut zurück und zeigte Anna die Sequenz ein drittes Mal, diesmal stoppte sie das Video allerdings schon nach wenigen Sekunden. Anna ging zum Fernseher und studierte ein Gesicht nach dem anderen.
    Und dann blieb ihr die Luft weg. »Das glaube ich nicht«, stieß sie hervor und drehte sich zu ihrer Gastgeberin um.
    »Solltest du aber«, sagte Ingrid. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und ließ eine Rauchwolke entweichen, und plötzlich sah Anna das junge Hippiemädchen vor sich, das Ingrid einmal gewesen war. Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu und strich leicht mit der Fingerkuppe über ein dunkelhaariges Mädchen in einer bestickten roten Bluse, mit einem pinkfarbenen Stirnband und einem grünen, lässig um die Schultern gelegten Tuch, das sich mit verzücktem Gesichtsausdruck zwischen den anderen jungen Leuten zur Musik bewegte.
    So also hatte ihre Mutter damals ausgesehen.
     
    Anna hatte das Gefühl, erst wenige Minuten geschlafen zu haben, als ein lautes Klopfen an ihrer Zimmertür sie aufschreckte.
    »Anna?« Es war Ingrids Stimme.
    »Ist etwas passiert?«, fragte Anna alarmiert.
    »Das Wetter hat aufgeklart, aber ich weiß nicht, wie lange es sich hält. Zieh dir etwas Warmes an und geh aufs Dach. Ich komme nach, sobald ich alle anderen geweckt habe.«
    Verdattert lauschte Anna Ingrids sich entfernenden Schritten und dem darauffolgenden Klopfen an der Tür des Nachbarzimmers. Ingrid meinte es ernst. Ergeben schaltete Anna die Nachttischlampe ein, kroch unter den Decken hervor und zuckte zusammen, als ihre Füße den eiskalten Zementboden berührten. So schnell es ging, schlüpfte sie barfuß in ihre Wanderschuhe, schlurfte ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, eine wirksame Art, wach zu werden, wenn auch eine ziemlich brutale. Dann zog sie sich an und trat auf den nur von wenigen schwachen Glühbirnen erhellten Flur. Einige schlaftrunkene Touristen waren schon auf dem Weg zum Dach. Anna grüßte kurz und folgte ihnen. Da alle Ingrids Befehl gehorcht hatten, musste es etwas Außergewöhnliches zu sehen geben.
    Und dann stand sie auf dem Flachdach, gegen die beißende Morgenkälte eingemummelt in ihre Jacke, und staunte wie alle anderen Gäste. Selbst Ingrid, Kim und Kaushik waren nach oben gekommen. Noch war es dunkel, doch am östlichen Rand der Welt gab es das Versprechen von Licht und Wärme. Zu ihren Füßen brachen sich Wolkenfetzen an den Flanken des Berges, auf dessen Sattel Darjeeling errichtet war, überspülten die ineinander verschachtelten Häuser in einer trägen Dünung wie die Wellen eines weißen Meeres, verbanden

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