Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
Vom Netzwerk:
sich miteinander, verwirbelten, zerrissen und lösten sich schließlich auf. Die Lichter der Fenster und Straßenlaternen erschienen Anna wie Botschaften aus einer versunkenen Stadt. Je heller es wurde, desto tiefer sanken die Wolkenfetzen in die Täler und gaben die Stadt und die sich darunter erstreckenden Teeplantagen frei. Das Licht wurde stärker, die Farben kehrten in die Welt zurück, Blassblau und Blassrosa und Blassgelb. Nun sanken auch die gelb angestrahlten Wolken weit im Osten und im Norden, und ein Raunen ging durch die frierende Gruppe oben auf dem Dach. Über den rundgeschliffenen Bergen Sikkims, die sich Walrücken gleich aus dem Wolkenmeer erhoben, zeigte sich der Kangchenjunga, der dritthöchste Berg der Welt, und alles und alle, Menschen und Häuser und Bäume und Berge, erschienen winzig im Vergleich zu dieser eisglitzernden Götterfestung.
    Lange stand Anna schweigend zwischen Kim und Ingrid, die ihre Hand ergriffen hatte und leicht drückte, wurde Zeugin der Geburt eines neuen Tages, blinzelte in die aufgehende Sonne und fühlte, wie sich angesichts der Erhabenheit der vor ihr ausgebreiteten Bergwelt ihre Sorgen, Fragen und Zweifel auflösten – ähnlich den Wolken, von denen keine der Kraft der Sonne widerstanden hatte. Ohne ein Wort löste sich die Gesellschaft auf dem Dach schließlich auf, einer nach dem anderen verschwand im Inneren des Hauses, und auch Anna ließ sich von Ingrid zum Zimmer zurückführen, kroch unter ihre noch warmen Decken und versank Sekunden später in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie erst erwachte, als Ingrid sie gegen Mittag erneut weckte.
    Nach einem späten Frühstück verließen Anna und Ingrid gemeinsam das Hotel und wanderten durch die Stadt. Das Versprechen des Morgens war eingelöst worden, die Sonne strahlte von einem lapislazuliblauen Himmel und verwandelte Darjeeling, bei ihrer Ankunft im Regen so grau und trist, in ein Kaleidoskop aus brillanten Farben, die ihre immense Strahlkraft der klaren, harten Bergluft verdankten. Gutgelaunte Frauen in leuchtend bunten Saris, mit dazu passenden Strickjacken gegen die Kühle des Oktobertags geschützt, schoben sich an Ständen voller Kleidung, Taschen, Plastikspielzeug und bonbonfarbenen indischen Götterbildern vorbei, und über allem lag ein Geräuschteppich aus Kinderlachen und Händlerstimmen, aus dem Klimpern der Glas- und Goldarmreife der Frauen und dem leisen Läuten von im Wind schwingenden Glöckchen.
    Ingrid lenkte Anna zielstrebig in eine abwärtsführende Gasse, die auf der linken Seite von gemauerten mehrstöckigen Geschäftshäusern und auf der rechten von improvisierten Bretterbuden gesäumt war, in denen Barbiere ihrer Arbeit nachgingen. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen.
    »Das ist doch Kim!«
    Ingrid spähte ebenfalls in die Bude. Kim winkte den beiden zu, dann lehnte er den Kopf zurück und ließ sich mit Seife einschäumen. Anna sah mit einem gewissen Unbehagen das lange Rasiermesser des Barbiers aufblitzen, doch Kims geschlossene Augen signalisierten absolutes Vertrauen in die Künste des Mannes.
    Weiter ging es bergab, die Bebauung dünnte mehr und mehr aus, bis die beiden Frauen schließlich einen stillen Weg entlangwanderten. Dunkelgrüne brusthohe Teesträucher erstreckten sich zu allen Seiten, beschattet von Zypressen und Laubbäumen. Hin und wieder erhob sich der mit einem zusammengefalteten Handtuch bedeckte Kopf einer Pflückerin über die Teesträucher, doch meist waren die Frauen so vertieft in ihre Arbeit, dass sie Anna und Ingrid gar nicht bemerkten. Nach einer Weile erreichten sie eine an einer Wegkreuzung stehende Bretterbude, vor der zwei kleine Tische und einige Plastikstühle zu einer Pause einluden. Anna und Ingrid ließen sich in der Sonne nieder, und sofort erschien eine rundgesichtige Frau mittleren Alters mit roten Apfelbäckchen und einem strahlenden Lächeln und erkundigte sich auf Englisch nach ihren Wünschen.
    »Den besten«, sagte Ingrid. Das Lächeln der Frau geriet noch eine Spur strahlender. Sie verschwand in der Bude, und nach wenigen Minuten kredenzte sie ihnen feierlich zwei Porzellantassen. Anna beugte sich über ihre Tasse und sog den Dampf ein. Sie machte sich nicht viel aus Tee und verstand auch nichts davon, aber dieser hier war wirklich etwas Besonderes. Das Aroma des Tees schien die Essenz eines ganzen Sommers in sich zu tragen und war dazu angetan, auch den eingefleischtesten Kaffeetrinker umzukrempeln.
    Ingrid bemerkte ihren

Weitere Kostenlose Bücher