Im Tal des Schneeleoparden
entrückten Gesichtsausdruck. »First Flush Super Fine Tippy Golden Flowery Orange Pekoe«, sagte sie. »Ich dachte, dies ist das richtige Getränk, um dich mit dem zu versöhnen, was ich dir noch zu erzählen habe.«
Anna ließ den Blick über die sonnenüberfluteten Berghänge gleiten. »Eine gute Idee«, sagte sie leise. »Nichts kann so schlimm sein, dass es in diesem Paradies nicht zu ertragen wäre.«
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22
1970 bis 1973
H öher und höher schraubte sich die Straße, eine Haarnadelkurve folgte der nächsten. Achim fluchte laut auf einen rachitischen Lastwagen, der vor ihnen im Schneckentempo den Berg hinaufkroch. In die liebevoll bemalten und verzierten Holzaufbauten war mit Sicherheit deutlich mehr Geld gesteckt worden als in die Wartung des Motors.
Bärbel, die sich gemeinsam mit Sylvain auf den Beifahrersitz gequetscht hatte, stimmte im Stillen in Achims Fluch ein. Vor kaum zehn Minuten hatte Achim in einem lebensgefährlichen Manöver mehrere Zwillingsbrüder des Lastwagens überholt, und ihre Nerven lagen blank. Sie wollte endlich ankommen. Nur noch diese Steigung trennte sie von ihrem Ziel, aber die Stunden, die die Auffahrt sie kostete, erwiesen sich als die längsten und zähesten der gesamten zweimonatigen Reise.
Achim scherte aus, um den Lastwagen zu überholen, trat aber sofort auf die Bremse, als ihm ein weiteres dieser Ungeheuer entgegenkam. Frustriert hängte er sich wieder hinter den Lastwagen. Der Motor protestierte gegen die Fahrt im ersten Gang, doch es ließ sich nicht ändern. Sylvain war als Einziger ruhig geblieben, legte versöhnlich seine Arme um Achims und Bärbels Schultern und ließ sie dort, bis sie eine halbe Stunde später eine Kuppe erreichten. Der Lastwagen röhrte weiter, aber Achim ließ den Bus auf einen staubigen Platz an der Seite rollen. »Alle Mann aussteigen«, sagte er. Gemeinsam stolperten sie über den Parkplatz, und dann lag es im strahlenden Licht eines wolkenlosen Novembernachmittages unter ihnen ausgebreitet: das Tal von Kathmandu.
Kleine Parzellen bedeckten den gesamten Talboden, Dörfer wie hingetupft ins Grün, Gelb und Braun der Felder, und, vielleicht sechs oder sieben Kilometer entfernt, im Zentrum des Tals, erahnten sie die Schwesterstädte Kathmandu und Patan. Im Norden, jenseits der dunklen Barriere des Bergkranzes, der das Hochtal umschloss, hob sich der schneebedeckte Hauptkamm des Himalayas scharf umrissen gegen das Blau des Himmels ab. Ein frischer Wind zerzauste ihre Haare und ließ Bärbels Rock flattern. Sie fröstelte, und auch ihren drei Begleitern wurde kalt. Stumm gingen sie zum Bus zurück und nahmen ihre Plätze wieder ein. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie wirklich begriffen, dass sie ihr Shangri-La erreicht hatten.
Eine knappe Stunde später parkte Achim den Bus auf einem großen Platz im Zentrum der Stadt, und bevor sie auch nur einen Blick auf die Paläste und Tempel werfen konnten, hatten sich Dutzende von Menschen um sie geschart, die an die Fenster klopften und versuchten, einen Blick auf die verunsicherten Insassen des Busses zu erhaschen. Zögernd öffneten sie die Türen und stiegen aus. Von allen Seiten erschollen Rufe, bis Sylvain schließlich begriff, dass die Nepalesen ihnen Kaufangebote für so ziemlich alles machten, was sie besaßen, angefangen von dem Bus selbst bis hin zu ihren verschmutzten Jeans. Sobald sie ihre Ruhe hatten, lehnte Bärbel sich gegen den Bus und sah sich um. Die eine Seite des Platzes wurde von einem wuchtigen weißen Gebäude in phantasievollem klassizistischem Stil dominiert. Das Gebäude war der einzige Fremdkörper zwischen all den anderen großen und kleinen, prächtigen und einfachen Häusern, die in windschiefer Folge die Seiten des Platzes rahmten. Die Häuser und der hässliche Palast vermochten ihre Aufmerksamkeit allerdings nur für Sekunden zu fesseln – ihr Blick wurde magisch von dem höchsten der in scheinbar willkürlicher Anordnung über den Platz verstreuten Tempel angezogen. Niemals zuvor hatte sie ein Gebäude gesehen, das diesem auch nur annähernd ähnelte. Die aus rotbraunen Ziegeln gemauerte Basis, die wohl zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Meter im Quadrat maß, verjüngte sich in zehn Stufen bis zu einer Plattform in etwa zehn Metern Höhe. Auf der Plattform war ein Gebäude errichtet, in das man durch eine dunkle Türöffnung treten konnte und von dem Bärbel vermutete, dass es sich um den eigentlichen Tempelschrein handelte. Eine Galerie aus
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