Im Tal des Schneeleoparden
das Tor öffnen. »Wie ging es weiter? Wohin seid ihr dann gefahren?«
»Nach Delhi. Wir erreichten die Stadt einige Tage, nachdem wir Sylvain und seinen Cousin Mauro getroffen hatten, und bereits auf der Fahrt zeichnete sich ab, dass wir getrennte Wege gehen würden. Unser eigentlicher Plan hätte uns von Delhi nach Süden geführt, nach Poona und Goa, aber in einigen Köpfen hatte sich mittlerweile ein neues Ziel festgesetzt: Kathmandu. Sylvain wollte unbedingt dorthin, und mit seinem Vorschlag rannte er bei Achim, Pieter und Babsi offene Türen ein. Okay, bei Babsi hat es wohl hauptsächlich daran gelegen, dass sie Sylvain begleiten wollte.«
»Waren sie denn zusammen?«
»Nun ja, deine Mutter himmelte ihn an, und es war unübersehbar, dass auch er Feuer gefangen hatte. Andererseits sah deine Mutter zwar äußerlich wie ein Hippie aus und kiffte, was das Zeug hielt, aber im Grunde war sie noch immer ein schüchternes Mädchen, das jemanden zum Anlehnen suchte und trotzdem vor jeder Berührung zurückschreckte. Wie dem auch sei: Nach zwei Wochen in Delhi trennten wir uns tatsächlich. Obwohl es mir nicht ganz geheuer war, deine Mutter zu verlassen, mochte ich meine Goa-Pläne nicht aufgeben. Ich wollte Palmen und Wärme, keine Berge. Marten hatte es sich in den Kopf gesetzt, in Poona in einen Aschram zu gehen, und Sylvains Cousin Mauro schloss sich ihm an. Mauro und Sylvain waren beste Freunde, doch ich vermute, dass sich Mauro wie das dritte Rad am Wagen fühlte, seit Sylvain nur noch Augen für Babsi hatte. Also kletterten wir zu Sabine und Lothar, der wahrscheinlich ganz froh war, Achim los zu sein, in den Mercedesbus und schaukelten nach Süden, während der Rest mit Achims Bus in den Norden aufbrach.«
»Achim und Sylvain im selben Bus? Konnte das denn gutgehen?«
»Offensichtlich ja. Deine Mutter hat mir später erzählt, dass die beiden sich sogar anfreundeten.«
»Hast du die Männer denn nicht wiedergesehen?«
»Nein. Nie wieder.«
»Warum nicht?«
Ingrid fasste Anna scharf ins Auge. »Du wirst es erfahren, wenn es so weit ist.«
Die Wohnzimmertür ging auf, und Kaushik betrat das Zimmer. »So, alle Gäste sind satt und im Bett«, sagte er in seinem indisch gefärbten Deutsch und gähnte herzhaft. »Seid ihr gar nicht müde?«
»Wie spät ist es denn?«
»Halb eins.«
»Oh! Anna, ich fürchte, wir müssen morgen weiterreden. Mein Wecker klingelt um halb sechs.«
Anna ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Sie hätte trotz ihrer Erschöpfung am liebsten die Nacht durchgemacht, um endlich alles zu erfahren, aber natürlich ging Ingrids Wunsch vor. »Kein Problem«, sagte sie. »Auf einen weiteren Tag kommt es nun wirklich nicht mehr an.«
»Das stimmt. Aber warte, bevor wir ins Bett gehen, möchte ich dir noch etwas zeigen.« Ingrid sprang auf und durchsuchte ein Regal, auf dem Bücher, Videokassetten und DVD s standen. Ohne Zögern wählte sie ein Video aus und zog ein Baumwolltuch von einem großen Kasten, der sich als Fernseher mit dazugehörigen Abspielgeräten entpuppte.
Kaushik verabschiedete sich. »Ich wünsche dir eine gute Nacht, Anna«, sagte er, und zu Ingrid gewandt: »Macht nicht mehr zu lange, du brauchst deinen Schönheitsschlaf.«
»Frechheit«, sagte Ingrid und drohte ihm mit der Fernbedienung.
Lachend verließ er den Raum. Ingrid blieb vor dem Fernsehschirm stehen und spulte das Video vor. Nach einer Weile hatte sie die gesuchte Stelle gefunden und kam zurück zu Anna aufs Sofa.
Anna verfolgte das Video ratlos. Im ersten Moment hielt sie es für eine Amateuraufnahme von Ingrid, aber schnell wurde klar, dass die Szene Spielfilmqualität hatte, wenn der Film auch recht alt sein musste.
»Jetzt pass auf«, sagte Ingrid ohne weitere Erklärung.
Auf dem Bildschirm erschien eine dunkelhaarige junge Frau, wahrscheinlich eine Inderin, legte den Zeigefinger an die Lippen und flüsterte: »Hush.« Dann ein Schnitt: Eine rothaarige Europäerin zog selbstvergessen an einer Tonpfeife. Musik setzte ein, ein langgezogener, vibrierender Ton, der genauso gut von einem Synthesizer wie einem Alphorn hätte stammen können. Die Rothaarige reichte die seltsame Pfeife an einen jungen Mann mit John-Lennon-Brille und langen, gewellten Haaren weiter. Rauch umwaberte die beiden. Nun veränderte sich die Kameraeinstellung und zeigte weitere junge Menschen. Ein Gitarrenrhythmus, der Anna unwillkürlich mit dem Fuß wippen ließ, begann den getragenen Ton zu überlagern. Immer neue junge
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