Im Tal des Schneeleoparden
zurückwillst. Du könntest auch hierbleiben. Mit mir.«
Bärbel stellte das Teeglas so heftig auf den Tisch, dass es überschwappte. »Mit dir? Achim, ich bin mit Sylvain zusammen. Ich liebe ihn!«
»Ja, ja, das ist nicht zu übersehen. Aber irgendwann wird er von dir genug haben, und dann?«
»Er verlässt mich nicht!«
»Wetten?«
Bärbel sprang auf, aber Achim griff ihr Handgelenk und zwang sie wieder auf den Stuhl. »Beruhige dich. Was sollen denn die Nepalesen denken?« Tatsächlich hatte die immer lauter werdende Unterhaltung der beiden die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich gezogen. Bärbel verkroch sich noch tiefer in ihr Tuch. Sie hasste es, aufzufallen.
Achim löste seinen Griff und strich beruhigend über Bärbels Handrücken. Zu gern hätte sie ihm ihre Hand entzogen, doch sie war wie gelähmt.
Eines Tages wird er genug von dir haben!
Der Satz hämmerte in ihrem Kopf, aber nicht erst, seit Achim ihn dort eingepflanzt hatte. In den letzten Wochen war es ihr gelungen, ihre Unsicherheit zu kaschieren, und manchmal war sie sich Sylvains Liebe so sicher, wie der Mond um die Erde kreiste – und doch überfielen sie immer wieder wie aus heiterem Himmel Zweifel. Bis heute hatte sie nicht begriffen, warum Sylvain ausgerechnet sie ausgewählt hatte und nicht eines dieser zupackenden, lebensprühenden Mädchen wie Ingrid.
»Es war ein Scherz.«
»Ein verdammt schlechter Scherz«, sagte sie. »Warum tust du mir das an?«
»Ich wollte dir nichts antun, aber ich wollte dich auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Du kannst dich auf niemanden verlassen.« Er machte eine Pause. »Außer auf mich. Komm zu mir, wenn es dir mal schlechtgehen sollte – was ich nicht hoffe.« Er hob seine freie Hand. »Ich habe keine Hintergedanken«, sagte er. Auf seinem Gesicht breitete sich ein entwaffnendes Lächeln aus, das Lächeln ihres alten Freundes Achim. Bärbel entspannte sich.
»Ich glaube dir«, sagte sie. »Ich habe gar keine Zeit mehr für dich und Pieter. Das muss sich ändern.«
Die gute Stimmung zwischen ihnen war wiederhergestellt, als sie das Teehaus verließen. Die Sonne hatte die Spitzen der Tempeldächer erreicht und warf dramatische Schatten auf den Boden des Platzes und die Straßen. Achim bot Bärbel den Arm, und sie hakte sich übermütig unter. Gemeinsam schlenderten sie durch den von vielen Füßen aufgewirbelten Staub zurück zur Annapurna Lodge. Alles ist gut, dachte Bärbel. Ich habe einen wundervollen Geliebten und einen ebenso wundervollen Freund. Einen, mit dem der Umgang nicht immer einfach ist, aber auf den ich mich verlassen kann.
Sylvain saß im Hof der Lodge und unterhielt sich mit zwei Mädchen, Monique und Lili, die erst am vorigen Tag angekommen waren und nun mit verliebten Blicken an seinen Lippen hingen. Bärbel blieb wie angewurzelt stehen. Da er mit dem Rücken zum Eingang des schmalen, von einer hohen Mauer eingefassten Hofes hockte, hatte er ihr Kommen nicht bemerkt, und es versetzte ihr einen Stich, als sie ihn so sah. Charmant, bezaubernd, begehrenswert. Und nicht nur für sie.
Achim drückte ihren Arm. »Komm, lass uns deinen Beau stören, bevor sich die Hyänen auf ihn stürzen«, flüsterte er und schob sie zu dem Tisch.
»Dürfen wir?«, fragte er und quetschte sich zu den verdatterten Mädchen auf die Bank.
Bärbel setzte sich zögernd neben Sylvain. »Hallo«, sagte sie.
Seine Augen leuchteten auf. »Als ich aufwachte und du nicht da warst, habe ich mir fürchterliche Sorgen gemacht, aber dann sagte Sunil von der Rezeption, du seiest mit Achim weggegangen.« Er zog sie an sich und gab ihr einen langen Kuss. Als sich Bärbel wieder von ihm löste und den giftgrünen Neid in den Gesichtern der Mädchen erkannte, war die Welt endgültig in Ordnung. Das neue Jahr konnte kommen.
Am Abend gingen Bärbel und Sylvain, Monique und Lili, Pieter und Achim und ein nepalesischer Freund von Achim, der sich den Namen Moon gegeben hatte, gemeinsam ins Tashi Dorje Restaurant, aßen sich an Momos und Dhal Bhat, Chow Mien, frittierten Bananen und Spinat-Hamburgern satt und lachten laut über die Geschichte von jenem Morgen, als der neue Boy der Annapurna Lodge völlig aufgelöst in die Rezeption gestürmt war. Auf dem Durbar-Platz sei ein neuer bunter Bus angekommen, und der würde kalben!
»Hat er das wirklich geglaubt?« Pieter wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
»Der Junge ist erst zwölf und vor zwei Wochen aus irgendeinem Kaff in den Bergen in die
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