Im Tal des Schneeleoparden
nicht zwischen ihr und Sylvain, aber sie konnte den Finger nicht auf die Ursache legen. Sie glaubte zu spüren, wie Sylvains Liebe abzukühlen begann. Waren sie zusammen, schien alles in bester Ordnung, aber er verbrachte mehr und mehr Zeit ohne sie, hatte sogar einige Tageswanderungen mit Achim in die umliegenden Berge unternommen. Vorgestern früh waren die beiden und Moon, der Achim folgte wie ein treuer Hund, erneut zu irgendeinem Dorf am anderen Ende des Tals aufgebrochen. Natürlich hatten sie Bärbel gefragt, ob sie mitkommen wollte, aber sie hatte abgelehnt. Diese Wanderungen waren nichts für sie. Obwohl die Männer nichts gesagt hatten, spürte Bärbel doch, dass sie ihnen zu langsam und zu ängstlich war, und die Erleichterung in ihren Gesichtern, als sie es nach dem ersten Versuch vorgezogen hatte, in Kathmandu zu bleiben, hatte ihr recht gegeben.
Am Tag nach der Silvesternacht hatte Sylvain Achim auf den Vorfall mit Anita angesprochen. Achim hatte ihm bestätigt, dass sie heroinsüchtig sei, es aber entschieden von sich gewiesen, darin verwickelt zu sein. Er hätte im Gegenteil vergeblich versucht, die Schwäbin, mit der er immerhin einige schöne Nächte verbracht habe, davon abzubringen. Achim hatte Sylvain die Offenheit nicht übelgenommen, sich sogar bei ihm bedankt, denn für sein künftiges Geschäft wäre es tödlich gewesen, wenn auch nur der Schatten eines Verdachts auf ihn fiele. Daraufhin hatte er ihm von seinen Export-Plänen erzählt, und Sylvain war interessiert darauf eingegangen. Bärbel freute sich über die Freundschaft der beiden Männer, sie ahnte, wie sehr es Achims Stolz verletzt haben musste, dass sie ihn zurückgewiesen hatte. Aber so war nun einmal das Leben.
In diesem Moment sah sie Sylvain den Platz überqueren. Sie sprang auf und eilte die Stufen hinunter. Außer Atem erreichte sie ihn und fasste seine Hand.
»Ihr seid schon zurück?«
Überrascht fuhr er herum. »Seit einer Stunde. Ich wollte gerade etwas Obst kaufen und mich dann auf die Suche nach dir machen.« Er nahm sie in die Arme. »Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte er mit weicher Stimme.
Bärbel schloss die Augen und klammerte sich an ihn. Seine Worte lösten den Knoten in ihrem Inneren. Alles war gut. »Ich liebe dich«, flüsterte sie.
»Je t’aime aussi. Komm, lass uns schnell unsere Einkäufe erledigen und dann ins Hotel gehen.«
»Wie lange?«
»Vielleicht vier Wochen.« Sylvain saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett und fuhr mit dem Finger die Muster auf der Decke nach. »Es können auch fünf werden. Moon sagt, er wäre eine Woche unterwegs gewesen, als er von seinem Heimatdorf nach Kathmandu gewandert ist, und wir wollen noch weitergehen, bis hinauf zu den Schneebergen.«
»Aber warum?«, stotterte Bärbel. Sie hatte sich ebenfalls aufgesetzt und ihr grünes Tuch um sich geschlungen. Gerade noch hatten sie sich geliebt, doch die Hitze war schlagartig verflogen, als Sylvain ihr von seinen Plänen erzählte. Bärbel fühlte sich kalt bis in die Knochen. »Warum so lange? Du kannst mich doch nicht allein hierlassen! Was soll ich denn tun ohne dich?« Tapfer versuchte sie die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, doch es misslang. Sie spürte Sylvains Arm um sich und schüttelte ihn ab. »Du willst mich loswerden, ich merke es schon länger. Du hast ein anderes Mädchen.«
»Hör auf!«
Bärbel zog die Nase hoch. »Es stimmt doch, oder?«, flüsterte sie. Wieder legte er den Arm um sie, und diesmal wehrte sie sich nicht.
»Nein, es stimmt nicht. Ich habe keine andere, und ich will auch keine andere. Du genügst mir vollauf.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Aber genau da liegt auch das Problem. Du bist viel zu sehr auf mich fixiert, machst nichts mehr allein. Hast du Freunde hier?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Monatelang sind wir Tag und Nacht zusammen gewesen, und ich brauche etwas mehr Raum für mich. Verstehst du das?«
Bärbel nickte zögernd. Sie gab sich Mühe, seinen Standpunkt zu begreifen, aber im Grunde ihres Herzens verstand sie ihn nicht. Es war doch alles so schön, warum stieß er sie dann von sich? »Aber gleich vier Wochen?«, fragte sie. »Muss es denn so lange sein?«
»Es muss nicht, aber ich möchte wirklich gern mit Achim und Moon auf diese Tour gehen. Im Gegensatz zu vielen anderen hier will ich nämlich mehr von Nepal kennenlernen. Seit ich denken kann, war ich vom Himalaya fasziniert.«
Bärbel kaute auf ihrer Unterlippe. »Kann ich
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