Im Tal des Schneeleoparden
doch diesmal würde der Übergang ins neue Jahr etwas ganz Besonderes sein, war es doch ein weiterer Schritt auf einem Teppich, der sich endlos vor ihr in die Zukunft entrollte, in schillernden Farben verziert mit dem Namen Glück. Sie sah zwei Menschen den Teppich entlanggehen, und sie erkannte ihre eigene zarte Gestalt und die von Sylvain. Das Leben war wunderbar.
Am Morgen des letzten Dezembertages wachte Bärbel schon vor Sonnenaufgang auf, aber sie war nicht die Erste. Ein früher Vogel trillerte sein Lied, vom Restaurant im Hof vernahm sie schlurfende Schritte und ein geflüstertes Gespräch. Draußen auf der Straße rumpelte ein Karren vorbei, sicher ein Bauer, der frisches Gemüse in die Stadt brachte. Sie kuschelte sich an Sylvains nackten Rücken und versuchte noch einmal einzuschlafen, aber vergeblich. Schließlich schlüpfte sie leise unter den Decken hervor, wickelte sich in ein großes Tuch und ging zu den Gemeinschaftstoiletten am Ende des zum Hof hin offenen Laubengangs. Achim kam ihr entgegen.
»Morgen«, sagte er kurz und wollte an ihr vorbeigehen.
»Hallo, Herr Morgenmuffel.«
Achim blieb stehen. »Vielen Dank für die Blumen«, sagte er mit einer überraschenden Bitterkeit in der Stimme. »Habe ich aber nicht verdient. Im Gegensatz zu dir stehe ich nämlich meistens um diese Zeit auf.«
»Entschuldige, ich hab’s nicht so gemeint.« Bärbel war bestürzt. Es lag ihr fern, Achim zu kränken.
»Schon okay.« Er winkte ab. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber wenn ich dich nun schon mal ohne deinen Beau zu Gesicht bekomme – was hältst du davon, gemeinsam zu frühstücken?«
»Gern. Ich muss mich nur schnell fertig machen.«
Eine Viertelstunde später trafen sie sich vor der Annapurna Lodge. Bärbel war erstaunt, wie viele Menschen in der Dämmerung unterwegs waren, ausnahmslos Einheimische, die ihr Tagwerk begannen, während die Hippies ihren Haschisch- und Opiumrausch der letzten Nacht ausschliefen. Sie verließen ihre Gasse und folgten dem Strom der Einheimischen in Richtung Durbar-Platz. Achim ging zielstrebig zu der Häuserfront an der Südseite des Platzes, deren Fassaden von den Tempeln fast vollständig verdeckt wurden, und duckte sich durch einen niedrigen Eingang. Bärbel folgte ihm durch einen düsteren, mit Tischen und Stühlen vollgestellten Raum und eine enge Treppe hinauf. Im zweiten Stock, dessen Decke so niedrig war, dass Achim den Kopf einziehen musste, fanden sie einen freien Platz am Fenster. Ein kalter Hauch wehte durch die glaslose Öffnung, und Bärbel zog fröstelnd ihr grünes Wolltuch um sich. Achim bestellte bei einem Jungen mit verstrubbeltem schwarzem Haar und müden Augen zwei Gläser nepalesischen Tee und Pakoda, frittierte Teigtaschen mit Gemüsefüllung. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Bärbel.
»Steht dir gut«, bemerkte er nach einer Weile. »Das Tuch sieht teuer aus.«
»Sylvain hat es mir geschenkt. Es ist aus Ziegenwolle.«
Er beugte sich vor und befühlte den Stoff. »Gute Qualität. Sylvain muss über eine Menge Geld verfügen.«
»Er hat es von seinen Eltern geerbt«, sagte Bärbel. »Sie sind bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, ob es wirklich viel ist, er spricht nicht gern darüber. Ich glaube, er vermisst seine Eltern sehr.«
»Er vermisst seine Alten?« Achim lachte trocken auf. »Dann dürfte er hier zu einer Minderheit gehören. Du trauerst deinem Heim ja auch nicht gerade nach.«
»Nein, das tue ich weiß Gott nicht«, sagte Bärbel leise. Sie war froh, als der Junge mit dem Tee und den Teigtaschen an ihren Tisch trat. Achim drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, und der Junge ging zu den nächsten Gästen.
»Das Tuch …«, kam Achim auf ihr anfängliches Thema zurück. »Meinst du, so etwas könnte den Frauen in Deutschland gefallen?«
»Ich denke, schon«, sagte Bärbel überrascht. »Warum fragst du?«
Achim blies auf seinen Tee, überlegte für einen Moment und sah Bärbel dann direkt in die Augen. »Ich will hierbleiben«, sagte er unumwunden. »Mir gefällt das Land, und es bietet eine Menge Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Ich könnte solche Tücher oder Teppiche exportieren, oder –« Er brach ab. »Ich habe mich entschlossen, den Bus zu verkaufen, um Startkapital zu bekommen.«
»Wie bitte? Aber wie sollen wir dann nach Hause kommen?«
Er zuckte die Achseln. »Falsche Frage. Es muss heißen: Wie sollst
du
nach Hause kommen? Wenn du überhaupt
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