Im Tal des Schneeleoparden
verliebt?«
Anna holte tief Luft. »Wir sind nur Freunde. Dein Bruder kommt mit, weil ich mich in Nepal nicht auskenne. Er möchte nicht, dass mir etwas zustößt.« Ihr brannten die Wangen.
Rikki-Tikki legte nachdenklich den Kopf schief. »Das ist bestimmt besser«, verkündete sie. »Weil nämlich alle Freundinnen von Laksmi immer verliebt kichern, wenn sie Kim sehen, und du bist ja auch viel zu alt.«
»Riddhi!«, donnerte Kaushik, der dem Gespräch bisher belustigt gefolgt war. »Du bist unmöglich. Entschuldige dich sofort bei Anna für dein freches Benehmen, und dann sieh zu, dass du in die Schule kommst!«
Rikki-Tikki, die es nicht gewöhnt war, von ihrem Vater gescholten zu werden, zog einen Schmollmund. »Aber wenn es doch so ist«, setzte sie an.
Anna gab es einen Stich. Natürlich war sie zu alt. Und außerdem wusste sie nichts über Kim. Vielleicht hatte er eine Freundin? Vielleicht war er sogar verlobt? Mit siebenundzwanzig Jahren hatten die meisten Männer in Indien sicherlich schon eine eigene Familie.
»Riddhi! Keine Widerrede!«
»Na gut. Entschuldige, Anna. Ich war vorlaut.«
»Schon vergessen«, presste Anna hervor. »Du hast ja recht.«
Rikki-Tikki wirbelte zu ihrem Vater herum und stemmte die Hände in die Hüften. »Siehst du«, sagte sie und flüchtete dann angesichts der auf seiner Stirn erschienenen Zornesfalte vom Frühstückstisch. Die Tür knallte, und die drei Erwachsenen wechselten peinlich berührte Blicke.
Auch heute wölbte sich der Lapislazuli-Himmel über den Bergen, doch das Licht drang nicht durch die dicken schwarzen Wolken über Annas Gemüt. Ohne nach rechts oder links zu sehen, trottete sie über den Chowrasta und die zum Zoo führende schmale Straße entlang und bemerkte kaum die Passanten, die ihr schimpfend auswichen. Sie würde Kim sagen, dass er nicht mitkommen sollte, aber anstelle von Erleichterung über ihre Entscheidung empfand sie nur Traurigkeit. Wahrscheinlich entsprang ihre Verliebtheit ohnehin nur ihrer Angst vor dem Alleinsein. Wieder jemand zum Anlehnen, hätte Rebecca gesagt. Versuch doch mal, ohne Stütze auszukommen, dann haut es dich auch nicht um, wenn’s schiefgeht. Und genau das werde ich jetzt tun, dachte sie. Bin ich nicht nach Indien geflogen mit dem festen Vorsatz, mit meinem eigenen Leben zu beginnen?
»Anna?«
Anna zwang ihren Blick vom Boden hoch und sah sich Kim gegenüber, der gerade mit einem glücklichen Lachen durch das Eingangstor des Zoos auf sie zueilte. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Sie musste es ihm sofort sagen, solange sie noch ein Wort herausbrachte.
»Du kannst nicht mit«, sprudelte sie hervor. »Ich fahre allein.«
»Was? Wieso? Ist etwas passiert?«
Anna wand sich. »Nein, es ist alles in Ordnung. Ach was,
nichts
ist in Ordnung! Ich bin völlig verwirrt.« Verwirrt ist schon untertrieben, dachte sie, als sie sein Lächeln zusammenfallen und einer verletzten Miene Platz machen sah.
»Verwirrt?«, fragte er mit belegter Stimme. »Nun, da kenne ich noch jemanden. Komm.«
Widerstandslos ließ sich Anna vom Zoo fortführen. Anstatt zurück in die Stadt zu gehen, wählte Kim die andere Richtung. Die Straße schmiegte sich weiterhin an den bewaldeten Hügel, auf dem der Zoo und das Bergsteigerinstitut thronten, umrundete ihn und führte dann am Osthang des Berges wieder zurück nach Süden in Richtung des Stadtzentrums. Hier war es stiller als auf der Westseite, Siedlungen wechselten sich mit unbewohnten Abschnitten ab, wo die Straße einen duftenden Kiefernwald durchschnitt. Sie liefen stumm nebeneinander her. Anna fühlte sich hundsmiserabel. Gern hätte sie das unerträgliche Schweigen gebrochen, doch alles, was sie sich zurechtlegte, erschien falsch. Nach etwa einer halben Stunde verließen sie die Straße und stapften einen steilen Hang hinauf, bis sie schließlich den kleinen, von einer hohen Zypresse dominierten Vorplatz eines buddhistischen Klosters erreichten. Kein Mensch war zu sehen. Kim überquerte zielstrebig den Platz, erkletterte eine Steintreppe, die zu einem Weg neben dem Klostergebäude führte und setzte sich auf die oberste Stufe. Anna folgte ihm und ließ sich keuchend neben ihm nieder. Darjeeling taugte nicht für Flachländer. Oder andersherum, dachte Anna: Flachländer taugten nicht für Darjeeling. Dafür entschädigte der Blick über die grün-braunen Berge Sikkims bis hin zum Kangchenjunga sie einmal mehr für die Anstrengung.
Anna räusperte sich. »Ein schöner Ort«, sagte sie
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