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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Frau, auszusteigen. Von ihrem Fensterplatz aus konnte Anna das wilde Gestikulieren der Ausgesonderten beobachten, dann reichte der Busfahrergehilfe einige Gepäckstücke vom Dach. Da die Soldaten nicht fanden, was sie suchten, scheuchten sie die Passagiere zurück in den Bus. Die Erleichterung stand den vieren ins Gesicht geschrieben, während sie über die Ziegen und Säcke im Mittelgang zurück auf ihre Plätze kletterten. Sobald das durchsuchte Gepäck wieder verzurrt war, raste der Busfahrer mit einem ärgerlichen Murmeln los. Offensichtlich fühlte auch er sich in Gegenwart der Soldaten unwohl. Unter den Passagieren entlud sich die Spannung in aufgeregten Diskussionen. Die Vorfreude auf die Stadt wollte sich nicht wieder einstellen. Anna fragte sich im Stillen, wie schrecklich das Leben in einem Land sein musste, wo einem die eigenen Soldaten Angst einjagten.
    Ihr Sitznachbar zupfte sie am Ärmel und zeigte nach vorn: Endlich hatten sie unverstellte Sicht auf Kathmandu. Sanft abfallend senkte sich die Straße den ersten Siedlungen entgegen, Vorposten der großen Stadt. Gemauerte Schornsteine von Ziegelbrennereien ragten in den Himmel. Über dem Tal wölbte sich eine Dunstglocke, ob aus Staub oder Smog, hätte Anna nicht sagen können. Von den gerühmten Himalaya-Gipfeln sah sie nicht einmal einen fernen Schatten, und auch die von Ingrid erwähnten Felder entdeckte sie nirgends. Seit dem Besuch ihrer Mutter hatte sich die Stadt bis an den Talrand vorgeschoben, doch trotz aller Urbanität kam es Anna vor, als führen sie in ein riesiges Dorf. Die Häuser waren lediglich drei-, manchmal vierstöckig, viele verfügten über Balkone, auf denen verstaubte Weihnachtssterne in angeschlagenen Töpfen darbten. Wäsche flatterte auf Leinen zwischen Strommasten und wurde durch den von Lastwagen aufgewirbelten Staub sofort wieder schmutzig. Läden reihten sich aneinander, die Waren vor den Türen aufgestapelt, dazwischen Hühner und Kinder, Unmengen von Kindern aller Altersstufen, die meisten in graublauen Schuluniformen. Immer wieder entdeckte Anna Brachen zwischen den Häusern, doch auch dort würde wohl demnächst gebaut werden. Je näher sie der eigentlichen Stadt kamen, desto seltener wurden die Brachen – nun standen die Häuser eng gedrängt. Werbeplakate priesen Zigaretten und Fruchtsäfte an, darunter lagerten Menschen und Kühe in heiliger Eintracht. Sie überholten einen Schrank mit Beinen und hielten vor einer Kreuzung. Anna schob das Fenster auf und steckte den Kopf hinaus. Tatsächlich, der Schrank holte wieder auf, ein dünner Mann in Lumpen hatte sich das schwere Möbel mit Hilfe eines Stirngurts auf den Rücken gewuchtet. Ohne sich vom Verkehr beirren zu lassen, zog er schwankend seines Weges.
    Anna wollte gerade den Kopf zurückziehen, als ihr auf dem Bürgersteig, kaum drei Meter entfernt, ein Mann und eine Frau auffielen. Die beiden wirkten sehr vertraut, obwohl sie verschiedener nicht hätten aussehen können. Die Frau mochte Anfang zwanzig sein. Sie war mittelgroß und schlank, mit heller Haut und kohlschwarzem, zu einem dicken Zopf geflochtenem Haar. Ihre Kleidung ähnelte Annas Salwar Kameez, war allerdings bescheiden aus violett und orangefarben bedruckter Baumwolle gefertigt. An den Füßen trug sie zerrissene, mindestens zwei Nummern zu große Turnschuhe. Der Mann erinnerte Anna mit seiner sehr dunklen Haut und den tiefliegenden Augen an die Inder in Kalkutta. Im Gegensatz zu dem beinahe runden Gesicht des Mädchens waren seine Züge ausgesprochen kantig. Anna schätzte ihn etwa fünfzehn Jahre älter als seine Begleiterin. Beide wirkten erschöpft, und ihre Kleidung sah aus, als hätten sie seit Nächten darin geschlafen. Sie trugen wenig Gepäck mit sich, lediglich kleine Rucksäcke mit daraufgeschnallten Decken. Wahrscheinlich wären die beiden Anna nicht ins Auge gesprungen, hätten sie nicht einen riesigen schwarz-braunen Hund bei sich gehabt, der sich bei jedem Hupen, bei jedem Scheppern enger an die Beine der jungen Frau schmiegte, bis sie fast gestolpert wäre. Anstatt den Hund zu schelten, sprach sie beruhigend auf ihn ein und legte ihm die Hand auf den Kopf. Er war so groß, dass sie sich dafür nicht zu bücken brauchte. Dann sah die Frau auf, Anna direkt in die Augen.
    Ihr Blick traf Anna wie ein Schlag. Von der plötzlich in der Luft liegenden Spannung stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf, und sie fröstelte. Was hatte das zu bedeuten?
    Der Bus fuhr wieder an. Anna

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