Im Tal des Schneeleoparden
Langsam, aber sicher wurden kalte Duschen für sie zu einem Symbol für Freiheit und Abenteuer. Durchgefroren eilte sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich ins Bett plumpsen. Nach der anstrengenden Busfahrt wollte sie sich ein Nickerchen erlauben, bevor sie sich auf Spurensuche begab. Kurz bevor sie einschlief, fragte sie sich, ob sie wohl in diesem Bett gezeugt worden war.
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33
T ara?«
Achals Stimme drang nur langsam zu ihr vor. Noch einmal sprach er leise ihren Namen und legte kurz die Hand auf ihren Arm. Die Berührung brachte sie dazu, sich von dem Busheck loszureißen, auf dem in riesigen Buchstaben etwas stand, das sie gern hätte entziffern können.
»Was ist mit dir? Hast du jemanden erkannt?«, fragte Achal.
Tara schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber da war eine Frau, eine junge Frau. Ich glaube, eine Ausländerin. Hast du sie nicht gesehen?«
Achal verneinte. Er hatte die ganze Zeit den Verkehr beobachtet, um Tara und den Hund sicher über die Straße zu geleiten. Seit sie die Vororte der Stadt erreicht hatten, war seine Begleiterin zunehmend nervöser geworden. Er wusste, dass dies ihr erster Besuch in der Hauptstadt war, und konnte sich ihre Überforderung angesichts des lärmenden Durcheinanders vorstellen. Er kam selbst vom Land und erinnerte sich mit Schrecken an seinen ersten Besuch in Kathmandu. Seitdem waren allerdings zwanzig Jahre vergangen, und die Stadt hatte ihre Einwohnerzahl vervielfacht.
»Du wirst dich nicht geirrt haben. Es gibt viele Ausländer in Kathmandu. Aber nun komm, wir haben noch ein ordentliches Stück zu laufen. Oder möchtest du ein Taxi nehmen?«
Tara wehrte ab. »Viel zu teuer. Jetzt bin ich so viele Tage gewandert, da kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht mehr an.« Sie versuchte ein Lächeln. »Ich bin nur ein dummes Dorfhuhn. Gib mir etwas Zeit, um mich zurechtzufinden.«
Gemeinsam eilten sie über die Straße. Auf der anderen Seite tauchten sie erneut in den Schatten hoher Häuser. Tara blickte ungläubig nach oben zu dem schmalen Streifen milchigen Blaus zwischen den Dächern. Wie ein Fluss, dachte sie, nur fließt er nicht über die Erde, sondern über den Himmel. In den Häusern lebten die Menschen übereinander, in drei oder vier Stockwerken, und Tara kam es vor, als seien in jedem einzelnen der Häuser so viele von ihnen zusammengepfercht, wie Raato Danda Einwohner hatte. Mit traumwandlerischer Sicherheit führte Achal sie durch die engen Straßen, vorbei an Läden und Tempeln und Wohnhäusern. Die überbordende Fülle der Waren, das Klingeln und Hupen, der schwere Geruch nach Menschenleibern, verrottendem Obst und Räucherstäbchen brandete erbarmungslos gegen Taras überreizte Sinne an, bis sie den Blick fest auf Achals Rücken heftete und sich von ihm führen ließ. Sie war entsetzlich müde – an die Stadt konnte sie sich auch morgen gewöhnen.
Stattdessen grübelte sie über die seltsame Fremde in dem Bus nach. Bisher hatte Tara erst ein einziges Mal in ihrem Leben Touristen gesehen, und auch das nur kurz. Vor vier oder fünf Jahren, genau wusste sie es nicht mehr, hatte sie ihre Mutter und Bahadur zum Einkaufen nach Gorkha begleitet. Damals war ihr die Provinzhauptstadt mit ihren zwölftausend Einwohnern unfassbar riesig erschienen. Die Touristen waren erschreckend groß und breit gewesen, mit hellen Haaren und rosafarbenen Gesichtern. Sowohl die Männer als auch die Frauen hatten kurze Hosen getragen, und Tara hatte verwundert auf die bloßen Beine der Touristen gestarrt, die schwatzend die steilen Stufen zum alten Königspalast hinaufstapften. Keine Nepalesin, welcher Kaste sie auch angehörte, hätte jemals ihre Beine gezeigt, aber anstatt die Touristen zu tadeln, verabreichte ihre Mutter Tara eine Ohrfeige für ihr unhöfliches Glotzen. Bahadur hatte gelacht. So seien die Fremden nun mal, hatte er gesagt. Wasserbüffeln gleich, scherten sie sich um gar nichts, waren jedoch gutmütig und oft sehr nett. Er musste es wissen, hatte doch die Familie alles Geld zusammengekratzt, um ihn für zwei Jahre zur Schule in Pokhara zu schicken. Er sprach ein wenig Englisch und hatte bestimmt viele Touristen kennengelernt.
Die Frau in dem Bus hatte keine Ähnlichkeit mit einem Wasserbüffel gehabt, eher mit einem jederzeit fluchtbereiten Vogel. Die Blässe ihrer Haut, noch unterstrichen von ihren offen getragenen Haaren, nicht hell, sondern dunkel wie die einer Nepalesin, hatte sie zerbrechlich wirken lassen. Die Frau musste einige
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