Im Tal des Schneeleoparden
Jahre älter sein als sie selbst, und doch meinte Tara eine mädchenhafte Unsicherheit in ihren riesigen Augen gesehen zu haben.
Und da war noch etwas gewesen, etwas schwer Greifbares. Es war, als hätte die Frau sie erkannt. Nicht, wie man jemanden wiedererkennt, den man lange nicht gesehen hat, sondern, als hätte die Frau Taras Inneres erkannt. Genau wie sie selbst einen Blick in die Seele der anderen geworfen hatte. Tara erschauderte unwillkürlich. Es war eine Verbindung entstanden, dessen war sie sich sicher, auch wenn ihr beim besten Willen nichts einfiel, was sie mit einer Frau aus einem fernen Land gemeinsam haben sollte.
Beinahe wäre Tara in Achal hineingelaufen. Er war stehengeblieben und wies auf einen unter einem Haus hindurchführenden Gang. Am anderen Ende des düsteren Tunnels schimmerte Licht.
»Wir sind da«, sagte er und tauchte in den Gang ab. Tara folgte ihm in einen kleinen Innenhof, wo eine Frau in ihrem Alter die Kleidung der Familie wusch. Die Frau grüßte, strich sich dann mit dem Unterarm eine gelöste Haarsträhne aus dem Gesicht und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Durch die geöffneten Fenster hörte Tara Töpfeklappern und Gesprächsfetzen in Newari, einer ihr unverständlichen Sprache. Eine Mutter schimpfte offenbar mit ihrer greinenden Tochter, während aus einem anderen Raum die Töne eines nepalesischen Schlagers drangen, lautstark begleitet von der piepsigen Stimme eines Jungen. Tara atmete auf. Diese Geräuschkulisse erinnerte sie an ihr Dorf. Den Autolärm hatten sie glücklicherweise auf der Straße zurückgelassen.
Achal gönnte ihr keine Pause und stürmte in die dem Gang gegenüberliegende Tür und das Treppenhaus hinauf. Im zweiten Stock klopfte er an eine Tür, die kurz darauf von einer ergrauten Frau mittleren Alters aufgerissen wurde. Sie stieß einen überraschten Ruf aus, dann griff sie nach Achals Händen und drückte sie herzlich.
»So bald? Seit wann seid ihr wieder in der Stadt? Wo ist mein Sohn?« Bevor Achal antworten konnte, entdeckte die Frau Tara, die sich im Halbdunkel des Treppenhauses gegen die Wand gepresst hatte.
»Und wer ist diese schüchterne junge Dame?« Sie senkte die Stimme. »Braucht sie eine sichere Bleibe?«
Achal rollte zustimmend den Kopf wie eine liegende Acht hin und her. »Lass uns nicht im Treppenhaus darüber sprechen.«
»Recht hast du. Komm«, sagte die Frau und komplimentierte Tara in die Wohnung. Erst jetzt entdeckte sie den Hund und runzelte die Stirn. »Muss das sein?«
»Er ist ein Held«, antwortete Achal. »Ich würde ihn ungern sich selbst überlassen.«
Gleich im ersten Raum staunte Tara über ein großes Sofa, das so prächtig aussah, als gehöre es in einen Palast. Die Grauhaarige bot Tara einen Platz auf dem Prunkstück an, aber Tara lehnte ab. Der hellgrundige Blumenstoff des Bezugs war zu kostbar für ihre schmutzige Kleidung.
»Was für ein Unsinn. Das ist ein ganz normales Sofa, und das jüngste ist es auch nicht mehr. Im Übrigen auch nicht das sauberste«, sagte die Frau augenzwinkernd. »Aber du sollst deinen Willen haben. Möchtest du dich waschen und umziehen?«
»Sehr gern. Ich befürchte allerdings, dass auch meine andere Kurtha ziemlich verschmutzt ist. Wir waren lange unterwegs.« Sie konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. »Entschuldigung.«
»Das macht nichts. Ich zeige dir jetzt dein Bett und das Badezimmer, und dann legst du dich erst mal hin. Achal kann mir in der Zwischenzeit alles erzählen. Wenn er nicht selbst schon mit dem Schlaf liebäugelt.«
»Keine Angst, ich bleibe wach und befriedige deine Neugierde«, sagte Achal. Er hatte weniger Hemmungen gehabt und sich lang ausgestreckt des Sofas bemächtigt. Achal benimmt sich, als sei er hier zu Hause, dachte Tara verwundert. Aber mit dieser Dame kann er nie und nimmer verwandt sein, sie sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Bevor sie den Faden weiterspinnen konnte, nahm die Frau sie bei der Hand und führte sie in einen Flur, von dem drei weitere Türen abgingen. Im Zimmer hinter der ersten Tür standen drei Betten, ein Schrank und ein winziger Tisch.
»Meins ist das rechte Bett, nimm du das unterm Fenster. Die Männer schlafen im anderen Zimmer. Und jetzt das Bad.«
Die letzte Tür führte in die Küche. Auch hier stand ein Bett, das tagsüber als Sitzgelegenheit diente. Ein Badezimmer, so winzig, dass man unmöglich darin hätte umfallen können, war in eine Ecke des Raums eingezogen worden. Tara staunte. Eine Toilette und
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