Im Tal des Vajont
hielt sie es nicht mehr aus, und da sie wusste, dass ich kein bisschen Wein mit auf die Weide nehmen würde, bat sie mich, ob ich nicht wenigstens für sie ein Handtuch in Wein tränken könnte, den sie dann auf dem Weg ganz langsam aussaugen würde. Nun war sie endgültig gefangen in der Hölle, und eher als gar nichts zu kriegen, reichte es ihr schon, an einem mit Wein getränkten Stofffetzen zu saugen.
Mit jedem Tag wurde sie nun irrer im Kopf und sah sich schon von Vipern und Skorpionen verfolgt. Einmal dachte ich, es ginge ihr besser, und schickte sie zum Wasserholen mit einem Eimer zum Brunnen neben der Kirche von Beorchia. Es war Februar, und um nicht auszurutschen, zog sie sich die genagelten Stiefel an. Die Zeit verging, und sie kam nicht zurück. Nach mehr als einer Stunde ging ich nach ihr schauen, ob sie überhaupt bis zum Brunnen gekommen oder ihr vielleicht etwas zugestoßen war. Damit sie mich nicht sehen konnte, lugte ich vorsichtig um die Kirchenecke. Arme Frau. Da war sie und versuchte einen Weidenkorb mit Wasser zu füllen. Da der Korb dicht geflochten war, füllte er sich auch schnell, zumal der Wasserstrahl armdick aus dem Brunnen herausgeschossen kam, aber wenn sie ihn dann forttragen wollte, war er schon nach den ersten zehn Metern wieder leer. So ging sie wieder hinauf, um den Korb von Neuem zu füllen. Kaum merkte sie, dass er leer war, ging sie wieder hinauf zum Brunnen. Ein ständiges Hinauf und Hinunter, jedes Mal zehn Meter. Ich nahm sie am Arm, um sie nach Hause zu bringen, aber sie zog immer in die Gegenrichtung, weil sie zurück hinauf zum Brunnen wollte, um den Korb mit Wasser zu füllen.
Drei Monate später starb sie, wie ihre Schwester, nur dass sie jetzt Blut spuckte und nicht Wein. Es war im Mai, der Monat der Madonna, und draußen sangen schon seit Tagen die Kuckucke. Ich war früh aufgestanden, um die Kühe zu versorgen. Wenn ich vom Stall zurückkam, war sie für gewöhnlich auch schon aufgestanden. Aber nicht an diesem Tag. Ich stieg hinauf zu ihrem Zimmer und rief nach ihr, aber sie antwortete nicht. Da öffnete ich die Tür. Sie hatte noch versucht, in die Küche hinunterzusteigen, war aber bereits beim Aufstehen hingestürzt. Auf dem Dachboden aus Lärchenholz eine dunkle Blutpfütze mit Klumpen, wie bei eingedickter Milch. Das Blut war ihr aus dem Mund herausgekommen und bereits kalt. Sicher war es irgendwann während der Nacht passiert. Zwei Tage später beerdigten wir sie. So lagen sie jetzt alle beisammen auf dem Friedhof, die Binùt-Schwestern, und alle starben sie an Erbrechen. Zwei Frauen wischten den Boden mit heißem Wasser, aber die Seele dieser armen Frau war mit dem Blut bereits tief in das Holz eingedrungen und ist immer noch dort in den Lärchenbrettern, wie der Schatten ihres Lebens.
Jetzt, dachte ich, kann man wirklich sagen, dass ich und mein Bruder Bastianin einsam und allein zurückgeblieben sind. Arme Alte! Sie wollte arbeiten, etwas für uns tun, sie fühlte sich noch stark genug dazu, aber sie hatte nicht die Strafe des Weins mit einberechnet, der sie dann, nicht einmal ein Jahr nach ihrer Rückkehr, umbrachte. Das Schicksal wollte es so. Wie sagte nicht ihre Schwester, die, die immer sang »Das Leben ist ein Jammertal, es kann mich kreuzweis …«: »Zeit und Tod machen alle Pläne kaputt.«
In jener Zeit freundete ich mich mit Benvenuto Martinelli an, der auch Raggio, »Strahl«, gerufen wurde, weil er, wie er mir erzählte, zehn Jahre nach der Heirat seiner Eltern zur Welt kam, nachdem sie jahrelang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen; und als sie schon die Hoffnung aufgegeben hatten, war er plötzlich da, und es war, als sei auf einmal ein Sonnenstrahl ins Haus gefallen. Ich kannte Raggio vorher nur vom Sehen, er war fünf Jahre älter als ich und wohnte im Ortsteil Forcate, aber wir waren nicht befreundet, nur Grüß Gott und Guten Abend. Eines Tages kaufte ich acht Ziegen von ihm, er machte mir einen guten Preis, fast die Hälfte von dem, was ein anderer aus Cellino verlangt hatte, nämlich genau jener Bia Zoldan, dem ich dann Jahre später meinerseits dreißig Ziegen verkaufte, aber zu einem viel höheren Preis als den, welchen ich ihm zuvor hätte zahlen müssen. So wurden wir Freunde, ich und Raggio, aber noch engere Freunde wurden wir später, als ich ihm beim Hausbau half. Hierzulande hilft man sich gegenseitig, wenn einer sich ein Haus bauen will. Man macht sich gleich zu dreißig oder vierzig Männern an die Arbeit, und so
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