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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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Bauern baten ihn, den Ring wieder an seinen Platz zu legen, und schenkten ihm jetzt nicht nur einen Eimer, sondern einen ganzen Hektoliter Wein. So kehrten die beiden mit einem Karren voll Hirse und Wein zurück, von Nacio Baldo gezogen, denn der alte Mela hatte zwar noch Kraft, aber wenig Ausdauer.
    Im Dorf erzählte man sich, dass Baldo, als er bei den Gebirgsjägern war, mit einem Faustschlag ein Maultier niedergestreckt habe, wobei er immer betonte, dass es ja ein krankes Tier gewesen sei und dass er ihm den Fausthieb nur versetzt habe, weil es sich nicht einreihen lassen wollte, und der Hieb sei eh nicht kräftig genug gewesen, um es zu töten. Das Maultier jedenfalls ging tot zu Boden, denn Baldo hatte eine Faust wie eine Steinkeule. Der Vorfall ging vor das Militärgericht, und um ein Haar hätte man ihn eingesperrt. Noch Jahre später tat Baldo dieses Maultier leid, und wie um sein Gewissen von dieser Last zu befreien, wiederholte er stets, das Maultier sei krank gewesen und sowieso gestorben, auch ohne Faustschlag. Seitdem, so wurde im Dorf erzählt, würde Nacio Baldo seine Faust nicht mehr erheben, nicht einmal bei einer Rauferei. Er ginge dann lieber weg oder würde eher noch Schläge einstecken, als selber zuzuschlagen.

In weniger als zwei Monaten hatten wir das Haus für Raggio fertig gebaut, und er war sehr froh darüber, weil seine Hochzeit mit einer aus San Martino bevorstand; die Frau war zwar nicht sehr groß, aber hatte so breite Hüften wie eine Stute, stark und arbeitsam, genau die Richtige zum Kinderkriegen. Nur sprach sie wenig, war stets verschlossen und blieb lieber für sich, so als hätte sie etwas zu verbergen. Aber die Hüften einer Zuchtstute zu besitzen will noch nichts heißen, denn Kinder bekam sie nie.
    Jaco dal Cuch war Tag und Nacht mit dem Behauen der Tür- und Fensterpfosten für Raggios Haus beschäftigt, und auch die anderen halfen ihm dabei. Er beherrschte diese Arbeit so gut wie kein anderer. Außerdem fertigte er noch Krüge für Schweine- und Butterschmalz, die er nach bloßem Augenmaß aus dem roten Marmorgestein in der Schlucht Bus de Bacòn herausschlug, ohne Maß zu nehmen, so perfekt rund wie die Hälften von Wassermelonen. Wenn einer ihm sagte, er wolle einen Krug, der zehn Kilo Schweineschmalz oder zerlassene Butter fasse, meißelte er ihn nach Augenmaß, und wenn er fertig war, fasste er exakt zehn Kilo. Wie mit dem Zirkel gezogen vollkommen rund waren seine schweren dickwandigen Marmorkrüge. Einmal versuchte der Jäger Checo de Costantina, der am Colle delle Spesse wohnte, ihn in Schwierigkeiten zu bringen und sagte ihm, er wolle einen Krug mit acht Kilo und achthundert Gramm Fassungsvermögen. Jaco begriff sofort, dass er ihn damit nur böswillig provozieren wollte, aber er machte keinen Rückzieher und stellte den Krug in drei Tagen fertig. Dann gingen sie zu Pilin in die Osteria und wogen zehn Kilo und achthundert Gramm Butter ab, stellten sie auf das Feuer und gossen die so zerlassene Butter in den Krug, der damit genau bis zum Rand voll wurde. Darauf zahlte Checo nicht nur den Preis für die Arbeit, sondern schenkte Jaco dal Cuch auch gleich die Butter. Der Krug diente Checo zur Aufbewahrung von Gämsenschmalz, das, wie er sagte, Heilkräfte besitze und vor der Kälte schütze, wenn man sich damit einreibt.
    Oft schaute ich Jaco beim Behauen der Pfosten für das Haus von Raggio zu, auch um etwas zu lernen, denn man weiß ja nie, es ist immer gut, sich noch in einer anderen Arbeit auszukennen. Jaco schnitt die Marmorpfosten längs ihrer langen Adern mit dem testùch , dem Schlageisen mit gehärteten Schneiden der Steinmetze. Ich sagte ihm einmal, er würde mit diesem Schlageisen den Marmor so leicht schneiden wie das Holz mit einem Beil, worauf mir Jaco del Cuch dann etwas Unglaubliches erwiderte. Er sagte, es sei nicht die Schneide des Schlageisens, die den Marmor spaltet, und auch nicht der Schlag, sondern der Klang. Die Schwingungen des Klanges sind es, die in den Marmor dringen und ihn öffnen, als wäre er Gips. »Der Schlag«, sagte er, »dient nur dazu, den Klang zu erzeugen, der sich dann seinen Weg bahnt und bis ins Herz des Steins vordringt. So müsste man überhaupt mit allen Dingen im Leben verfahren, immer nur mit dem Klang arbeiten.«
    Für die Eingangstür von Raggios Haus meißelte Jaco ein furchterregendes Gesicht in einen weißen Stein und platzierte diesen dann als Schlussstein in die Mitte des Türbogens. Es zeigte eine Art Teufel mit

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