Im Tal des Vajont
ihre Schwester, die mit Ameisen im Mund gestorben war. Das zeigte sich in den folgenden Tagen immer deutlicher. Sie hatte einiges an Geld bei sich, auch wenn sie wie eine Sandlerin aussah, und ging jeden Tag zu Pilin, um sich flaschenweise Wein zu kaufen. An einem Abend erzählte sie mir, was ihr in Mailand zugestoßen war.
Sie begann so:
»Mir ging es gut in dem Haus, wo ich als Hausdienerin arbeitete. Die Herrschaften, der Mann und die Frau, beide um die vierzig, hatten so viel Geld, wie es Kieselsteine am Vajont gibt, aber sie besaßen nicht, was alles Geld und allen Reichtum dieser Welt aussticht, und das sind die Kinder. Er war Ingenieur bei der Eisenbahn, und alle sagten, dass er ein mächtiger und bedeutender Mann in Mailand sei. Seine Ehefrau war Lehrerin, aber unterrichtete nicht, denn in diesem Haus fehlte es nicht an Geld. So spielte sie den ganzen Tag Geige und Klavier, und gegen vier fuhr sie dann zum Tee zu ihren Freundinnen außerhalb der Stadt. Die Herrschaften gaben mir wenig Geld, dafür aber reichlich zu essen und zu trinken und auch Kleider, denn die Hausherrin hatte genau meine Maße. So lebte ich vor mich hin, konnte selbst auch ein paar Lire auf die Seite legen, und ehe ich mich versah, war schon einige Zeit vergangen.
Eines Tages, es war gegen vier, und die Signora war zu ihren Freundinnen gefahren, kam unversehens er zu mir und fing an, mich anzufassen. Ich versuchte mich loszureißen, aber er war zu stark und bedrängte mich weiter, und außerdem wollte er mir Geld geben, wenn ich stillhielt. Aber ich hielt nicht still. Doch dann musste ich stillhalten. Nicht weil ich das Geld wollte, sondern weil er stärker war. Von diesem Tag an kam er immer, wenn seine Frau außer Haus war, und machte mit mir, wozu er Lust hatte. Ich konnte nichts mehr dagegen tun, denn er jagte mir Angst ein, dieser Mann. Die Geschichte ging längere Zeit so weiter. Er gab mir Geld, aber nicht weil er mich bestieg, sondern damit ich still blieb und niemandem etwas sagte. Ich blieb still und nahm das Geld, denn auch wenn ich es nicht nahm, hätte er mich trotzdem bestiegen.
Eines Tages merkte ich, dass ich meine Regel nicht mehr bekam, und nach zwei weiteren begriff ich, dass ich schwanger war, und sagte es ihm, denn es konnte nur von ihm sein. Er wurde leichenblass, dann sagte er mir, ich solle nur ruhig bleiben, er würde schon alles richten. Erst dachte ich, er wolle das Kind loswerden, und ich wäre schon fast davongeflüchtet. Aber nein, vielmehr befahl er mir, niemandem davon zu erzählen, und er würde schon eine Lösung finden. Nach einer Woche sagte er mir, ich solle seiner Frau sagen, dass ich es leid wäre und woanders arbeiten gehen wolle. Ich tat, wie er mir befohlen hatte, und packte meine Sachen. Nach dem Abschied bot er sich an, mich zum Bahnhof zu begleiten, doch dann brachte er mich nicht zum Bahnhof, sondern in ein Schwesternkloster in Mailand selbst. Mit den Nonnen hatte er schon vereinbart, dass sie mich versteckt halten würden. Ich sollte das Kind normal gebären und aufziehen, bis es einigermaßen groß war, dann würde er es wieder zu sich nehmen unter dem Vorwand, es zu adoptieren. Ich wollte nicht zustimmen, aber dann drohte er damit, er würde mich sonst aus dem Weg räumen oder lebenslang in eine Irrenanstalt sperren lassen. Ich hätte alles seiner Frau erzählen können, aber fand nicht den Mut dazu, denn damit hätte ich auch ihr Leben ruiniert. So sagte ich, um Zeit zu gewinnen, lassen wir das Kind erst einmal auf die Welt kommen, dann sehen wir weiter. Er ging fort und ließ sich monatelang nicht mehr blicken. Erst als das Kind, es war ein Junge, geboren wurde, tauchte er kurz auf. Die Nonnen hatten einen Priester besorgt, der ihn taufte. Ich nannte ihn Antonio, nach deinem Großvater. Es war ein süßer Schlingel, ich gab ihm meine Milch, und es war eine Freude zuzusehen, wie gut er wuchs, denn ich hatte genug Milch, um zwei Kälber aufzuziehen. Ich führte ein ruhiges Leben im Kloster, und er tauchte nur hin und wieder auf, um den Kleinen zu sehen. Als Antonio dann drei Jahre alt war, kam er und nahm ihn einfach mit. Ich bat ihn nur darum, den Kleinen ab und zu sehen zu dürfen. Ohne mein Kind war ich wie tot, als hätten sie mir Herz und Seele herausgerissen, und monatelang weinte ich nur und konnte nicht mehr schlafen. Hin und wieder kam er noch mit dem Kind, aber dann wurde es immer seltener, bis er es nach Ablauf eines Jahres schließlich gar nicht mehr brachte. Den Schwestern
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