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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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abstehenden Hörnern und ausgestreckter Zunge, wie zur Beleidigung aller Vorbeigehenden. Ich wand ein, das Gesicht von Christus oder das eines Engels wäre vielleicht besser gewesen, aber Cuch erwiderte, dass Raggio selbst es so wollte.
    Für die Deckenträger des Hauses wurden Lärchen auf den sonnigen Hängen des Monte Certén geschlagen, auf dem mageren Boden dort wuchsen die Bäume nur sehr langsam, nicht einmal einen Millimeter jährlich. Sie halten dann Jahrhunderte, aber sie müssen in der richtigen Mondphase während der ersten acht Tage nach dem Neumond im Dezember geschlagen werden. Zugeschnitten wurden sie alle von Lilàn de Mela, dem Enkel von Nacio Baldo, der den Brunnenring bei Conegliano hochgestemmt hatte. In Sachen Holz war Lilàn, auch wenn er noch jung war, wie Jaco dal Cuch als Steinmetz, ein Meister in seinem Fach. Er schnitt die Hölzer nur mit einem Beil zu, aber so glatt wie mit einem Hobel. Auf diese Weise hatte Raggio nach fünfundfünfzig Tagen ein neues Haus und konnte das immer schweigsame Mädchen mit den geheimnisvollen Augen aus San Martino heiraten. Nach der Trauung wurde auf dem Dorfplatz ein großes Fest gefeiert, und alle saßen wir, ich wie die anderen, die das Haus mit aufgebaut hatten, bei Essen und Trinken zusammen, nur Nacio Baldo fehlte. Raggio schlachtete das größte Kalb, und dann wurde vor der Osteria von Pilin nur gehüpft und getanzt, gegessen und getrunken, draußen, denn es war ein schöner Tag im Mai, zu schade, um drinnen zu bleiben. Während wir alle so feierten, bemerkte ich, wie die frisch verheiratete Braut ständig zu mir herübersah. Aber warum schaut sie mich denn so an, sie hat doch gerade geheiratet?, dachte ich bei mir. Damals an jenem Tag im Mai, ich glaube, es war der 20., ahnte ich noch nicht, dass diese Blicke auf dem Platz von Erto der Anfang all meines Unglücks sein sollten.
    Von diesem Hochzeitstag an ging ich Raggio recht häufig besuchen. So vergingen einige Jahre. Da er ein leidenschaftlicher Jäger war und am liebsten auf Gämsenjagd ging, begann auch ich, mich dafür zu begeistern, und so gingen wir gemeinsam auf Gämsenjagd. Manchmal begleitete uns der alte Checo de Costantina, aber doch eher selten, denn für gewöhnlich ging er lieber allein. Er war immer allein, wie der Kuckuck.
    Einmal ging ich mit Raggio auf Gämsenjagd zum Bosconero. Wir trugen beide Einundneunziger, das waren gute Gewehre aus dem kaum vergangenen letzten Krieg. Es war im September, ein wenig zu früh für Gämsen, weil sie dann noch ein rotes Fell tragen, aber Raggio brauchte das Fleisch und wollte keine seiner Ziegen schlachten und erst recht kein Kalb. Die bewahrte man sich für Notzeiten auf.
    Auf dem Bosconero angekommen, richteten wir uns in der Höhle ein, die den Wilddieben als Unterschlupf diente, denn wir wollten wenigstens für drei Tage bleiben, und da drin ist es wie in einer Herberge. Aber was sag ich, drei Tage, um ein Haar wäre Raggio gleich an Ort und Stelle verreckt. Wir waren gerade unten in den Gravèrs, und zum Glück waren wir dort unten, wo es Wildbäche mit reichlich Wasser gibt und weiter unten einen kleinen Wasserfall, andernfalls wäre mein Freund schon tot. Als Raggio gerade unter einer Kiefer herging, wurde er von einer Viper in den Nacken gebissen. Da ich ihm nachfolgte, konnte ich alles mit ansehen. Er schlug sich auf den Hals, schrie und fluchte, bis er auf einmal die Viper, eine von denen mit Horn, von seinen Schlägen getötet auf die Erde fallen sah, aber da hatte sie ihn schon gebissen. Was tun? Hoch zum Passübergang und zurück nach Erto, daran war überhaupt nicht zu denken, denn dazu brauchte man sieben Stunden, genau die Zeit, um ruhig wegzusterben. Inzwischen, nach nicht einmal einer Dreiviertelstunde, wurde Raggio so übel, dass er kotzen musste, und er sagte, der Bauch würde ihm brennen wie Feuer. Kurz darauf fühlte er sich immer müder werden und wollte sich schlafen legen. Sein Hals war angeschwollen wie der eines Ochsen, und seine Augen waren, vielleicht vom Schwellungsdruck, herausgetreten und blutunterlaufen wie die einer Eule. Als ich merkte, dass er einnicken wollte, hatte ich Angst, er könnte nicht mehr aufwachen. Da erinnerte ich mich an den Wasserfall, der durch die Rinne des Collalto herunterkam, weiter oben in Richtung Lastegipfel. Ich zog Raggio hoch auf die Beine und sagte ihm, er solle sich zusammenreißen und bis zum Wasserfall durchhalten, das Wasser würde ihn retten. Mir war nämlich der Gedanke

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