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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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ungetauften Kinder hinkamen.
    Als wir Raggio die Fesseln abnahmen, hatten die am Handgelenk einen Zentimeter tiefe Einschnitte voll mit verkrustetem Blut hinterlassen. Armer Raggio, wie arg hatte ich ihn zugerichtet. Und alles war meine und ihre Schuld.
    In der Zeit seines Gefesseltseins war ich es manchmal, der ihm zu essen gab. Wenn ich ihm dann den Löffel in den Mund schob, sah er mich mit bösen Augen an, aber hin und wieder waren sie auch traurig, als wollte er mich fragen, wie konntest du mir das antun und meine Frau schwängern. Und dann, nach kurzem Nachdenken, wiederholte er ständig »töt eu, töt eu«, das bedeutete, er würde uns beide töten.
    Ich ging weiter jeden Tag in die Molkerei, aber Raggio kam nicht mehr zum Käsemachen. Und jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, sagte er mir, er würde mich mit diesem Stab töten, und streckte dabei seinen Königsstab in die Luft. Von da an ging ich nur noch mit meinem Taschenmesser in der rechten Hosentasche aus – ein wenig, um ihm Angst zu machen, ein wenig auch, weil man ja nie sicher sein konnte, und wenn er mir jetzt sagte, er würde mich mit seinem Stock umbringen, antwortete ich ihm, dass ich ihm schon mit dem Messer zuvorkommen würde. Und dabei zog ich es aus der Tasche und zeigte es ihm. Aber davon ließ sich Raggio überhaupt nicht beeindrucken und erwiderte, dass er viel mehr Grund hätte, mich umzubringen, als ich ihn, aber wenn ich ihn umbringen wollte, dann sollte ich es gleich tun, denn früher oder später würde er mich töten.
    Don Chino rief nicht die Gendarmen. Er wollte erst abwarten, wie es der Frau ergehen würde. Wenn es ihr dann besser ginge, wollte er auch die Polizei rufen. Aber es sollte ihr nie wieder besser gehen.
    Denn schon einige Tage, nachdem das Kind aus dem Käse geschlüpft war, wurde allen klar, dass man sie in ihrem Zustand nicht im Dorf behalten konnte. Sie ließ sich immer mehr gehen, machte alles in die Hose und wurde immer wahnsinniger. Nachts fing sie mit ihrem Kind, das auch meins war, zu reden an. Und dann sprach sie auch tagsüber mit ihm. Sie redete zu ihm und streichelte es, als hätte sie es auf den Knien und gäbe ihm zu essen. Und Raggio konnte man dabei nicht zutrauen, dass er ihr helfen würde, schließlich war er noch verrückter als sie, und auch wenn es ihm für Augenblicke besser ging, konnte man die beiden nicht mit sich allein lassen. Da war die Befürchtung zu groß, dass er sie in einem Wutausbruch mit einem Hieb hinter den Kopf töten würde, so wie man Kaninchen oder Vipern tötet.
    Daher wurde sie, kaum dass der Frühling begonnen hatte und ringsum die Blumen sprossen, die Kuckucke sangen und die Sonne die Erde erwärmte, auf Beschluss von Don Chino, als Waise ohne Verwandte, auf einen Karren geladen und nach Belluno ins Spital gebracht.
    Doch dort merkte man nach einer Woche, dass es nicht der richtige Ort für sie war, und so wurde sie in die Irrenanstalt nach Pergine in Valsugana verlegt, weil die von Feltre schon mit Irren überfüllt war.
    Nach einem Monat brach ich auf, um sie zu besuchen. Es war um Mitte Mai, und der Frühling hatte schön und warm begonnen. Ein Freund von mir wollte sich in der Zwischenzeit um die Molkerei kümmern, und so ging ich zunächst zu Fuß bis nach Longarone. Von dort ging es dann mit dem Postbus und anderen Mitfahrgelegenheiten weiter bis nach Pergine. Ich fand auch bald das Irrenhaus und fragte die dortigen Nonnenschwestern nach ihr. Ich erklärte, sie sei eine Berglerin und erst vor Kurzem hierhergebracht worden, und dass sie ein Kind streichelte und mit ihm redete, welches aber nur sie sehen würde, weil es in Wirklichkeit gar nicht existierte. Darauf führte mich die älteste Schwester in einen großen Raum mit ungefähr zwanzig Verrückten. Ich erschrak, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen, und nie hätte ich gedacht, dass es so etwas überhaupt gibt auf der Welt. Da gab es Nackte, Angezogene, welche, die schrien, andere, die sangen, und einen, der wie tot und einbalsamiert in einer Ecke saß und sich nicht einen Millimeter bewegte. Dann ging ich, begleitet von zwei Krankenpflegern und der alten Schwester, zum Tisch, an dem sie saß. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Ihre Haare waren ganz zerzaust, und ihre weltverlorenen Augen schienen nichts mehr wahrzunehmen. Sie hatten ihr eine Art aschenfarbene Kutte angezogen, die bis zu den Füßen reichte. In der Hand einen Löffel, den sie von einem leeren Teller zum Mund führte, als würde sie

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