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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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Wirtschaft verlassen. Also ließen sie ihn frei, er nahm seinen Stock, ging aus der Tür und verschwand. Da jetzt keine Gefahr mehr war, steckte ich das Messer wieder zurück in den Rucksack und wollte auch sofort aufbrechen.
    Ich fragte den Wirt, ob er wisse, von wo Raggio gekommen und wie lange er schon dagewesen war. Er sagte, Raggio sei schon am Morgen von den Buse di Lodina in die Wirtschaft heruntergekommen und ihm dabei irrer als gewöhnlich erschienen. Ich trank noch meinen Wein aus und ging dann, ohne etwas zu essen, nach Hause, denn falls Raggio zurückkäme, wollte ich nicht gleich noch einmal angegriffen werden.
    Zu Hause lag alles ganz verlassen da, denn ich war ja meist fort auf den Weiden, meine Verwandten tot und mein Bruder in Udine im Gefängnis. Und ich dachte an sein Haus mit dem Kamin unten am Sturzbach Vajont, das jetzt, wo er im Gefängnis saß, auch verlassen und verschlossen dastand, wer weiß für wie viele Jahre.
    So beschloss ich, es leihweise an einen jungen Burschen aus dem Dorf zu übergeben, der früher schon für einige Zeit meinem Bruder Bastianin ausgeholfen und dabei gleich ein wenig das Schmieden gelernt hatte. Auf diese Weise würde das Haus weiter offen stehen und winters der Kamin rauchen, und alles wäre nicht so tot, denn ein Haus mit rauchendem Kamin bedeutet Leben, und dann ist es unwichtig, wer darin das Feuer macht.
    Bei diesen Gedanken betrachtete ich den erloschenen Herd und, auch wenn es erst kurz nach Mittag war, zündete ein großes Feuer in meinem verlassenen alten Haus an, das sogleich wieder zum Leben erwachte, und selbst die Mauern schienen sich lachend darüber zu freuen.
    Der Anblick des Feuers, das die Mauern erwärmte, öffnete mir das Herz, und einen Augenblick lang war mir, als wären sie alle zurückgekehrt und hätten sich nun rings um die Bank versammelt: mein Vater, die Mama, die trunksüchtige Tante, mein Bruder und all die Altvorderen, die in diesem Haus gelebt hatten, dann die Tante aus Mailand, auch sie Trinkerin, die schließlich im Zimmer unserer armen Mama verstarb.
    Ich wollte noch warten, bis das Holz niedergebrannt war, und während ich so auf der Bank saß, musste ich an alle unsere Unglücke denken und wie viel Unheil über meine Familie gekommen war.
    Während mir alle diese schlimmen Dinge im Kopf herumgingen, hörte ich jemanden an die Tür klopfen. Ich sagte Herein, und Paol dal Fun Filippin, dem ich die Käserei überlassen hatte, trat ein. Er hatte nach langer Zeit wieder den Kamin rauchen sehen und gleich an mich gedacht: »Ciao, Zino, ich freu mich, dich zu sehen.«
    In der Hand hielt er einen kleinen Käselaib als Geschenk für mich und dazu ein wenig Geld als Rate für die Käserei. Er konnte gar nicht aufhören, mir dafür zu danken, dass ich ihn mit seinen Waisenkindern vor dem Hunger gerettet habe, und küsste und drückte mir dabei die Hände, als wäre ich ein Heiliger. Ich dankte ihm meinerseits und nahm, um ihn nicht zu beleidigen, auch den Käse entgegen, aber zum Geld sagte ich Nein, das solle er sich ruhig wieder einstecken. Mit drei kleinen Kindern brauche er es mehr als ich.
    Wir plauderten noch eine Weile, und als das Feuer schließlich erlosch, verabschiedeten wir uns und gingen jeder unserer Wege. Vorher gab ich ihm noch den Schlüssel zur Schmiede von Bastianin mit der Bitte, er möge ihn doch dem Burschen aushändigen, der meinem Bruder manchmal geholfen hatte. Außerdem solle er ihm sagen, dass, solange Bastianin nicht zurückkäme, er jederzeit wieder die Schmiede eröffnen und dort mit allen Werkzeugen arbeiten könne, als wären es seine.
    Mit diesen Worten zog ich die Haustür hinter mir zu und drehte den Schlüssel dreimal im Schloss herum, welches mein Bruder angefertigt hatte, als er bei Mano del Conte seinen Beruf erlernte. Dabei musste ich daran denken, wie er jetzt im Gefängnis hinter Schloss und Riegel saß, und bekam solches Herzweh, dass mir der Atem stockte.
    Gegen zwei Uhr nachmittags machte ich mich mit Rucksack und Herzdrücken auf den Weg zum Cornetto. Ich konnte es kaum erwarten, fortzugehen und zu meinen Ziegen zurückzukehren, denn dieser Ort, mein Haus, das Dorf und die Käserei riefen mir zu viele schöne Dinge in Erinnerung, die mit einem Schlag hässlich geworden waren.
    Bevor ich das Dorf verließ, ging ich noch bei Pilin vorbei, um mich zu verabschieden und das Öl und die anderen Sachen, die ich dort gelassen hatte, mitzunehmen; dann fragte ich ihn noch, ob Raggio in der Zwischenzeit

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