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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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können. Es war, als hörte man klagende Stimmen in diesem Wind heraufkommen, als wollten sie dich nach unten ziehen, zum Sterben. Nur wenige hielten es länger als eine Minute am Rand des Loches aus.
    Man erzählte sich, dass dort Leute aus Rache und Eifersucht lebend hinuntergestoßen worden waren. So verschwand im Sommer 1910 die Ehefrau von Giglio Corona Stram und tauchte nie wieder auf, weder im Dorf noch irgendwo sonst. Ihr Mann beklagte sich überall, dass sie ihn verlassen habe, und meinte, sie wäre gewiss nach Deutschland geflohen, wohin sie immer schon gerne gehen wollte. Aber wer Stram gut kannte, glaubte ihm nicht. Viele waren sich sicher, dass er sie umgebracht hatte, vielleicht erwürgt, dann in eine Kiepe gepackt, zur Doline getragen und hineingeworfen. Oder vielleicht sogar noch lebend hineingestoßen.
    Im Sommer, zu der Zeit, als seine Frau verschwand, führte Giglio Corona Stram zusammen mit ihr die Käserei Cornetto. Um ihre Kühe auf die Alm zu bekommen, benutzten sie die Straße nach Cellino und zur Forcella Ferron, die für die Kühe leichter zu begehen war. Der Weg auf der Seite von Erto war steil zu Fuß und nur mit Ziegen und Schafen zu begehen, die Kühe hätten sich dort verletzen können.
    Giglio erzählte, eines Morgens in der Käserei sei er aufgestanden, und seine Frau sei nicht mehr im gemeinsamen Bett aus Laubzweigen gelegen, und seither habe er sie nirgendwo mehr gesehen. Aber das glaubten ihm nur wenige. Auch weil er, eine Woche nach dem Verschwinden seiner Frau, sich bereits ein anderes Mädchen aus dem Ortsteil Spesse besorgt und zu sich in die Käserei, ins Bett aus Laubzweigen, genommen hatte. Also glaube ich nicht, dass er seiner Ehefrau besonders nachtrauerte.
    Auch während des Krieges verschwanden Männer aus dem Dorf, um genau zu sein, zwei Vettern, die nicht mehr gesehen wurden. Die zwei hatten einen Holzfällerbetrieb und schlugen ihr Holz ebendort auf dem Cornetto. Und nachdem sie nicht mehr aufgetaucht waren, führten vier Brüder von der Spianada den Betrieb weiter, um ihn nicht ganz verfallen zu lassen. So jedenfalls sagten die vier Brüder, aber im Dorf war man sicher, dass sie die Vettern in die Foiba geworfen hatten, um selbst den Holzbetrieb zu übernehmen, zusammen mit allen Gerätschaften wie auch dem guten Ruf.
    Von Giglio Corona Stram sagten die Leute, er habe sich schon lange Zeit vorher gut mit der aus Spesse verstanden und habe eben wegen ihr auch seine Frau aus dem Weg geräumt und dann ganz sicher auch in die Foiba vom Cornetto geworfen. Eine Alte erzählte, sie habe nachts ihre Stimme nach Hilfe rufen hören. Da habe sie einen Rosenkranz in das Loch geworfen, und dann sei die Stimme verstummt.

Nach einer Woche Weiden auf der Pian Grande, während der ich bis tief unten zu den letzten Steilhängen der Käserei Ferron und des Foss di Vajont hinunterzog, kam mir in den Sinn, nach Erto abzusteigen, um ein wenig Esszeug und Öl für die Lampe zu besorgen.
    Solange ich lebe, werde ich mich an diesen vermaledeiten Tag erinnern, als ich für Esszeug und Öl hinunter ins Dorf abstieg, auch wenn ich genau weiß, dass ich nur noch kurze Zeit lebe.
    Man kann nicht einfach immer so weiterleben mit einer solchen Last auf der Seele, und wenn man ehrlich ist, muss man am Ende seine Karten auf den Tisch legen, weil die Seele von dieser Last erdrückt wird.
    Es war der 30. September, hoch im Himmel glänzte noch die Sonne, und gleitende Adler wärmten sich in ihr die Flügel, wie immer.
    Gegen zehn Uhr morgens ließ ich die Ziegen auf der Pian Grant zurück, schnallte mir den Rucksack auf den Rücken und machte mich ins Dorf auf. Aber ich hatte keine rechte Lust, als hätte ich irgendeine Vorahnung, die mich zurückhalten wollte. Im Dorf kaufte ich alles Nötige, dann ging ich zu Pilin etwas essen und ein wenig Wein trinken.
    Da war Raggio, der, als er mich sah, sofort mit seinem Stock auf mich losstürzte. Ich hatte noch den Arm verbunden und wich erst zurück, doch während ich dabei gleichzeitig nach meinem Messer griff, hatten die anderen ihn schon festgehalten, und nach einer Weile kehrte wieder Ruhe ein. Pilin sagte, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, und fragte mich dann, wo ich die Ziegen weidete, worauf ich gedankenlos erwiderte, dass ich auf der Pian Grande di Cornetto sei, und wenn ich alles erledigt und noch etwas gegessen hätte, wieder dorthin zurückkehrte. Kaum hatte ich das gesagt, bat Raggio seine Aufpasser, ihn loszulassen, er würde die

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